"Als größten Adoptionsprozess der Geschichte" hat mal ein Journalist die Wahl eines neuen Papstes bezeichnet. Von einem Moment auf den nächsten bekommen die Katholiken einen Menschen vorgesetzt, der in den kommenden Jahren und Jahrzehnten eine tragende Rolle für sie spielen wird. In den ersten Wochen und Monaten des neuen Pontifikats konnte man nur mutmaßen, wofür Leo XIV. als Pontifex steht. Nun, sechs Monate nach seiner Wahl, gibt es mehr zu sagen über den neuen Papst.
Wenn man das bisherige Wirken von Leo auf ein Schlagwort runterbrechen will, dann ist das der Brückenbauer, der im Wort "Pontifex" schon drin steckt. Leo scheint es wichtig zu sein, die Hand in alle Richtungen auszustrecken, in Richtung liberale Kirche wie zu den konservativen Christen in aller Welt. Eine Schlagzeile, die man in den letzten Monaten häufig las: "Zum ersten Mal seit Jahren".
Unterschiede zu Franziskus
Zum ersten Mal seit Jahren führt ein Papst eine Fronleichnamsprozession an, zum ersten Mal feiert er wieder eine Messe zu Allerseelen auf Roms Zentralfriedhof, zum ersten Mal singt wieder ein Papst in der Messe, zum ersten Mal seit langem könnte ein Papst wieder im Apostolischen Palast wohnen.
Alle diese Punkte beurteilen Leo im Kontrast zu seinem Vorgänger Franziskus, der bewusst mit vielen römischen Traditionen gebrochen hat. Er wohnte im vatikanischen Gästehaus anstatt im päpstlichen Amtssitz. So wichtig und angebracht in den Franziskus-Jahren das Zeichen war, mehr den Menschen als die Institution in den Mittelpunkt zu stellen, so hat das naturgemäß auch zu einigen Spannungen geführt.
Zum Beispiel beim Konfliktthema Alte Messe. Franziskus kritisierte, dass es katholische Gruppierungen gibt, die die Feier der traditionellen lateinischen Liturgie – mit Rücken zum Volk – mehr aus politischen Gründen als aus spirituellem Interesse feierten. Die Empörung über die Einschränkungen des Dokuments "Traditiones custodes" war groß.
Nun hat Leo dieses Dokument zwar nicht zurückgenommen, ließ aber den prominent-konservativen US-Kardinal Raymond Burke zu einer Wallfahrt die Alte Messe im Petersdom feiern - zum ersten Mal seit Jahren. Keine 180-Grad-Wende in der Kirchenpolitik, aber ein Zeichen von Respekt und Anerkennung gegenüber Katholiken, die sich von Franziskus weniger geliebt fühlten.
Kein einfaches Zurück vor die Zeiten von Franziskus
Leo schwenkt also nicht in die Zeit vor Franziskus zurück. Das macht eine weitere Veranstaltung der letzten Wochen deutlich: Im Nachgang der Weltsynode lud der neue Papst Beteiligte des Reformprozesses aus aller Welt nach Rom. Genau wie seinem Vorgänger ist es ihm wichtig, die Verantwortung aller Christen bei den synodalen Reformschritten der Kirche zu betonen. Deshalb wurden die Gespräche – wie auch bei Franziskus – an runden Tischen in kleinen Gruppen geführt, weit weg vom frontalen Vortragsstil früherer Synoden, an denen traditionell nur Bischöfe teilnehmen konnten. Also auch hier kein Zurück vor die Zeiten von Franziskus.
Wie bei jeder neuen Beziehung scheint es auch bei einem neuen Papst eine erste Verliebtheitsphase mit der rosaroten Brille zu geben. Die Welt ist vom neuen Papst begeistert, davon, dass er bei seinen Augustinerbrüdern Mittagspause macht oder auf der Sprachapp Duolingo offenbar Deutsch lernt. Auch die Rekorde an Pilgerzahlen in Rom bestätigen das. Diese Begeisterung kann aber nur so lange andauern, bis der Papst – zu dessen Aufgabe auch die Wahrung der katholischen Lehre gehört – die ersten Aussagen trifft, die nicht allen gefallen.
Sein erstes großes Interview gab der Pontifex im September der amerikanischen Journalistin Elise Ann Allen vom Magazin Crux. Kritik an der zunehmenden politischen Polarisierung in aller Welt, an Elon Musk oder der Zerstörung der Umwelt hat international viel Beifall gefunden.
Leo, die Blackbox?
Im deutschsprachigen Raum standen andere Themen im Fokus: die Absage einer Zulassung von Frauen zu Weiheämtern und die Kritik an ritualisierten Segensfeiern für gleichgeschlechtliche Paare, die in mehreren Bistümern in Deutschland bereits durchgeführt werden.
Die Reaktionen in verschiedenen Kreisen der Kirche waren groß, von Enttäuschung bis zu Empörung. Im Endeffekt sollte aber dieser Schritt niemanden überraschen, denn mit seiner Kritik an den Reformbestrebungen der Kirche in Deutschland ist Leo auch hier zu hundert Prozent auf der Linie seines Vorgängers Papst Franziskus.
Der Kirchenhistoriker Jörg Ernesti sprach vor wenigen Monaten im DOMRADIO.DE- Interview von der "Blackbox" Papst Leo. Solange der neue Papst keine konkreten Schritte vollzieht, interpretiert jeder in ihn hinein, was er sich selbst von der Kirche wünscht. Nach sechs Monaten ist nun klar:
Von der Lehre und der Amtsführung tritt Leo in die Fußstapfen seines Vorgängers – für einige im Positiven wie vielleicht auch im Negativen. Das Neue, das Leo in sein Amt einbringt, ist die Hand auszustrecken auch zu den Kreisen, die Franziskus gegenüber kritisch eingestellt waren. Hier nun die Brücke zu schlagen ist und bleibt eine große Herausforderung für den 266. Nachfolger des Heiligen Petrus.
Renardo Schlegelmilch ist Chefredakteur von DOMRADIO.DE