Theologe und Fundamentalismus-Experte zu Verschwörungstheorien

Dunkle Mächte und einfache Wahrheiten

Der evangelische Theologe und Fundamentalismus-Experte Christoph Urban blickt  auf die Ursprünge von Verschwörungstheorien. Und erklärt, warum bestimmte christliche Kreise dafür besonders anfällig sind.

Dunkle Wolken / © worradirek (shutterstock)

KNA: Herr Urban, im Netz und auf Demonstrationen tauchen gerade immer mehr Menschen auf, die eine Verbindung zwischen dem Coronavirus und geheimnisvollen Mächten herstellen. Warum ist das so?

Dr. Christoph Urban (Evangelischer Theologe und Fundamentalismus-Experte): Die Bedrohung durch Corona schafft offensichtlich ein Bedürfnis nach Sinnstiftung und Komplexitätsreduktion. Viele Menschen fühlen sich überrollt. Sie suchen nach Erklärungen. Das machen sich die Verschwörungstheoretiker zunutze.

KNA: Was bieten die Theoretiker an?

Urban: Gemeinsam ist allen Verschwörungstheorien, dass sie unterstellen: Die Herrschaftsverhältnisse sind nicht so, wie sie zu sein scheinen. Es sind dunkle Mächte am Start, die die Weltherrschaft an sich reißen wollen.

KNA: Auf Corona bezogen heißt das?

Urban: Dass einige behaupten, Corona existiere gar nicht oder sei eine in chinesischen Laboren gezüchtete Biowaffe. Ein weiterer Mythos gibt die Schuld an der Krankheit dem Microsoft-Gründer Bill Gates. Er wolle mit dem Virus die Interessen der von seiner Stiftung getragenen Impfkampagne nach vorne bringen. Manche konservative Christen schließlich bezeichnen das Virus als Strafe Gottes - beispielsweise für eine angeblich zu liberale Haltung zur Homosexualität. Die Pandemie steht dabei nicht selten als Chiffre für Weltuntergangsszenarien.

KNA: Können Sie das etwas näher eingrenzen? Schließlich sind nicht alle Christen aus dem konservativen Spektrum anfällig für derlei Theorien.

Urban: Beispielhaft nenne ich evangelikale Bewegungen in den USA - Freikirchen, Pietisten, Pfingstler oder Charismatiker - aber auch traditionalistische Kreise in der katholischen Kirche oder Teile der orthodoxen Kirche. Sie tragen sozusagen in ihrer DNA bestimmte Vorstellungen von bösen Mächten in sich, die den Glauben zugrunde richten wollen - Apokalypse und Weltende inklusive.

KNA: Gibt es weitere Gemeinsamkeiten?

Urban: Bei manchen kommt hinzu, dass sie medizinischer Behandlung aus Glaubensgründen distanziert gegenüberstehen, weil sie Gott nicht ins Handwerk pfuschen wollen oder eine spirituell überhöhte Unversehrtheit des Körpers bewahren wollen. Viele messen dem Gottesdienst eine ganz besondere Bedeutung zu - gerade auch im Kampf gegen das Virus.

KNA: Welche praktischen Konsequenzen hat das?

Urban: Daraus resultiert eine gewisse Verweigerungshaltung. Mitglieder der Shincheonji-Kirche Jesu in Südkorea feierten trotz behördlichen Verbots weiter Gottesdienste und infizierten als sogenannte Superspreader das halbe Land.

KNA: In der katholischen Kirche sorgte ein Aufruf von Erzbischof Carlo Maria Vigano für Schlagzeilen. Der deutsche Kardinal Gerhard Ludwig Müller gehört zu den Mitunterzeichnern. Er sagt, dass er damit auch einen kritischen Diskurs über die Verhältnismäßigkeit der Anti-Corona-Maßnahmen anregen will.

Urban: Dagegen ist überhaupt nichts einzuwenden. Aber der Aufruf warnt zugleich orakelhaft vor ominösen Eliten, die bewusst Freiheitsrechte entziehen und die christliche Zivilisation zerstören wollen, um eine neue Weltordnung zu errichten, eine "Weltregierung, die sich jeder Kontrolle entzieht". Eine klassische Verschwörungstheorie und alles andere als neu.

KNA: Wo liegen die Wurzeln dieser Theorie?

Urban: Im US-amerikanischen Protestantismus der 1990er-Jahre, also am Ende des Kalten Krieges. Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs verband sich die Wahrnehmung, dass ein neues Zeitalter angebrochen sei. Gleichzeitig verschwand das auch von christlichen Fundamentalisten gepflegte Feindbild des Kommunismus. Sie versuchten daraufhin, diese Leerstelle zu füllen, indem sie ihre Energie gegen die eigene Regierung wandten. Diese würde mit obskuren Mächten paktieren, lautete die Unterstellung. Der damalige Präsident George W. Bush senior eignete sich dafür besonders gut, weil er vorher Chef des Geheimdienstes CIA gewesen war.

KNA: Wer brachte diese Ideen in Umlauf?

Urban: Zu einem der bekanntesten Protagonisten wurde der Fernsehprediger Pat Robertson. Er brachte 1991 einen Bestseller heraus mit dem Titel "Die neue Weltordnung". Darin findet sich jene Zwei-Fronten-Theorie wieder, die jetzt auch in dem Papier von Vigano auftaucht.

KNA: Nämlich?

Urban: Eine Geldelite will die Weltherrschaft an sich reißen und dunkle, antichristliche Mächte wollen den christlichen Glauben vernichten.

KNA: Wirkten Robertsons Ideen in die politische Debatte hinein?

Urban: Vor allem Gruppierungen der christlichen Rechten beriefen sich auf ihn. Generell waren und sind die Grenzen fließend zu Rechtsextremismus und Esoterik.

KNA: Was sich wiederum auch bei manchen Protesten in Deutschland beobachten lässt. Sie sind evangelischer Pastor - wie sollte man mit den Demonstranten aus seelsorglicher Sicht umgehen?

Urban: Den harten Kern zu erreichen, ist unglaublich schwer. Es gehört ja gerade zur Identität dieser Gruppierungen, dass sie sich für besonders halten, aber gleichzeitig von der Mehrheit abgelehnt werden. Alle anderen sind für sie nur "Schlaf-Schafe", also Teil einer willenlosen Herde. Aus dieser Geisteswelt gelingt der Ausstieg letztlich nur mit Glück und professioneller Hilfe.

KNA: Was ist mit denen, die nicht an eine Verschwörung glauben, aber auf die Straße gehen, weil sie Unbehagen über den Umgang mit der Corona-Pandemie empfinden?

Urban: Mit denen, die das Bedürfnis nach Orientierung, Sicherheit und Sinndeutung haben, muss man reden, und zugleich die Bereitschaft mitbringen, auch das eigene Weltbild kritisch zu hinterfragen.

KNA: Wenn Leute Ihnen sagen, dass Gott uns zu einer Abkehr vom Kapitalismus bewegen will oder seine gequälte Schöpfung nun zurückschlägt...

Urban: ... antworte ich, dass die Bibel nicht mit der Apokalypse und dem großen Knall endet, sondern Hoffnung auf einen neuen Himmel und eine neue Erde vermitteln will. Das gilt auch in der Corona-Pandemie.

Das Interview führte Joachim Heinz.


Christoph Urban, Evangelischer Theologe und Buchautor, / © Harald Oppitz (KNA)
Christoph Urban, Evangelischer Theologe und Buchautor, / © Harald Oppitz ( KNA )
Quelle:
KNA
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