DOMRADIO.DE: Vor zehn Jahren hat Papst Franziskus die Enzyklika "Laudato si‘" veröffentlicht. Das päpstliche Schreiben war ein Novum. Erstmals stellte die Kirche Umwelt- und Klimaschutz in das Zentrum ihres Handelns. Das hatte noch nie ein Papst gemacht. Warum war das wichtig, dass auch Kirche sich positioniert und nicht nur Politik und Wissenschaft?

Leonardo Ulrich Kardinal Steiner OFM (Erzbischof von Manaus, Brasilien): Weil unser Glaube mit allen Fragen und Bereichen menschlichen Lebens zu tun hat. Auf diese Präsenz von Kirche weist schon das Dokument "Gaudium et spes" (lat. Freude und Hoffnung) aus dem Zweiten Vatikanischen Konzil hin. Alles hat mit allem zu tun, nichts steht außen vor. Der Jesuit Pierre Teilhard de Chardin sagte sogar, dass der auferstandene Christus in allen Geschöpfen auf der Welt an die Präsens Gottes erinnert. Geschöpfe, die der Heilige Franz von Assisi als "Brüder und Schwestern" bezeichnete und die in einer tiefen Beziehung zur Wirklichkeit stehen.
Wir können nicht nur auf die Bereiche schauen, die uns unmittelbar selbst betreffen. Das wäre naiv. Aus diesem Grunde glaube ich, dass Laudato Si' - trotz aller Schwierigkeiten - einen großen Beitrag dazu geleistet hat, zu erkennen, dass wir in Beziehung zur gesamten Schöpfung stehen. Und dass diese Schöpfung Fürsorge verlangt, nicht Herrschaft oder Zerstörung, wie es Papst Franziskus in dieser Enzyklika geschrieben hat.
DOMRADIO.DE: Welche Bilanz ziehen Sie zehn Jahre nach der Veröffentlichung der Enzyklika?
Steiner: Die Enzyklika ist eine enorme Bereicherung. Vor allem für die Kirche in Brasilien, wo wir schon lange mit diesen Realitäten konfrontiert sind. Die Bischöfe des Amazonasgebietes haben die Probleme schon vor über 50 Jahren angesprochen. Laudato Si' war uns eine Ermutigung und zugleich Bestätigung, dass wir auf dem richtigen Weg sind.
Ich war als Delegierter des Vatikans bei der Weltklimakonferenz 2015 in Paris. Ich kann Ihnen sagen, dass der meist zitierte Text dort Laudato si‘ war. Ich glaube, dass viele Themen dort mit großer Ernsthaftigkeit diskutiert wurden, weil die Enzyklika ein Bewusstsein geschaffen hat.
Auch unsere Seelsorge vor Ort hat sich durch die Enzyklika verändert. Bereits zum fünften Mal haben wir uns während der Fastenzeit mit einer Kampagne zu integraler Ökologie befasst. Bei Versammlungen in unserer Diözese sind Ökologie und Klimaschutz ständig ein Thema. Wir engagieren uns dafür und es sind immer auch Vertreter der Indigenen Gemeinden dabei, weil sie uns vorleben, wie man im Einklang mit der Schöpfung sein kann.
Aber wir müssen noch viele Schritte gehen, vor allem im Bereich der Wirtschaft. Bei der Wirtschaft geht es nur noch um Wachstum auf Kosten der Umwelt. Die Wirtschaft folgt nicht mehr dem Ursprung des Wortes "oikonomia" im Griechischen, die "Verwaltung des Hauses" im Sinne eines Dienstes. Diese Dimension ist total verloren gegangen. Heute geht es nur noch um Vermehrung von Reichtum. Diese Diskussion muss in Zukunft noch viel vehementer geführt werden.
DOMRADIO.DE: Gleichzeitig erwärmt sich das Klima. Es gibt infolge der Klimaveränderungen zunehmend Katastrophen. Die USA sind aus dem Pariser Klima-Abkommen ausgestiegen. Gerade erst kam eine Studie der Forschungsorganisation World Resources Institute (WRI) zu dem Ergebnis, dass die Zerstörung tropischer Urwälder 2024 den höchsten Stand seit mehr als zwei Jahrzehnten erreicht habe. Es wird also eher schlimmer als besser. Wird die Wirkmächtigkeit der Enzyklika Laudato si' überschätzt?
Steiner: Die Enzylika hat noch nicht alle Bereiche durchdrungen. Vor allem in der Wirtschaft möchte man davon nichts hören, aber auch in der Politik. Zum Beispiel in unserer Region, wo die Kontamination von Flüssen mit Quecksilber und die Waldrodung infolge des Bergbaus ein großes Problem sind. Nur 25 Prozent der Abwässer in Manaus - eine Stadt mit über 2 Millionen Einwohnern - werden aufbereitet, der Rest wird ungeklärt in die Flüsse des Amazonas geleitet. Das sind sehr ernste Probleme. Trotz unserer Bemühungen, trotz der vielen Diskussionen ist die Botschaft von Laudato si‘ noch nicht überall angekommen.
Aber wir arbeiten weiter an einem Bewusstsein. Wir arbeiten weiter mit Kindern und Jugendlichen. Und wir führen Diskussionen in allen Gemeinden. Wenn wir unsere Mentalität, unser Verständnis von unserer Beziehung zur Umwelt und unser Verständnis vom Markt und der Wirtschaft nicht ändern, werden wir keine Zukunft mehr haben. Ich betrachte das als eine Saat, die irgendwann aufgehen wird.
DOMRADIO.DE: Sie haben sich mit dem Thema Schöpfungsverantwortung schon lange vor Laudato si‘ beschäftigt. Sie haben immer wieder Kritik an der wirtschaftlichen Ausbeutung des Amazonas geäußert - auch ganz konkret an Ex-Präsident Bolsonaro, der die Amazonas-Region wirtschaftlichen Interessen preisgegeben hat. Trotzdem hat in der Regel Wirtschaftswachstum Priorität vor dem Schutz von Klima und Umwelt. Ist das nicht frustrierend?
Steiner: Wir Christen leben von der Hoffnung. Die Probleme sind da und sie berühren uns. Sie beunruhigen und manchmal empören sie uns auch. Wir dürfen in unserer Arbeit nicht nachlassen, die wir in den vielen Gemeinden, Bibelkursen und Treffen leisten. Wir dürfen nicht vergessen, dass es eine weltweite Mentalität ist, die wir verändern müssen.
Ich wiederhole die Worte von Papst Franziskus, der einmal sagte: "Hände weg vom Amazonas!" Der Amazonas, seine Mineralien, sein Holz, seine Fische und sein Gold werden ausgebeutet. Die Menschen haben offenbar vergessen, dass das Wasser des Amazonas für den Regen im mittleren Westen und Südosten Brasiliens verantwortlich ist. Der Blick für die großen Zusammenhängen ist verloren gegangen. Laudato Si' erinnert uns daran. Wir als Kirche sollten nicht aufgeben, nur weil die Dinge nicht so laufen, wie sie sollten. Wir haben rund eintausend Gemeinden in der Erzdiözese und wir arbeiten daran, dass künftig jede Person und jede Gemeinschaft um die Verantwortung weiß, die wir für Mutter Erde tragen.
DOMRADIO.DE: Die Erwartungen an den neuen Papst Leo XIV. sind vielfältig. Im Moment hört man von ihm vor allem Friedensappelle, die ohne Zweifel auch wichtig sind. Wissen Sie, wie wichtig ihm das Thema der Schöpfungverantwortung ist? Wird er dem Weg von Franziskus folgen? Hat er Sie und Ihre Mitbrüder schon um Rat gefragt?
Steiner: Nach der Wahl konnte jeder von uns Kardinälen ihn persönlich begrüßen. Dabei habe ich ihm dafür gedankt, dass er sich bereit erklärt hat, unser Papst zu sein. Ich sagte: "Der Herr schicke unserem Amazonas einen Segen!" Da hat er gelächelt und mir gedankt.
Ich habe den Eindruck, dass Papst Leo XIV. angesichts der vielen Konflikte in der Welt das Thema Frieden als erstes aufgegriffen hat. Aber bei anderen Gelegenheiten hat er auch schon die Themen Armut und Umwelt angesprochen. Natürlich kann er in zwei Wochen nicht alles abdecken. Auch Papst Franziskus hat nicht von Anfang die Bewahrung der Schöpfung zum Thema gemacht, aber er hatte sich schon bei der Bischofskonferenz in Aparecida 2007 mit den Bischöfen des Amazonasgebietes darüber ausgetauscht.
Papst Leo XIV. hat bereits signalisiert, dass er das Thema weiter vorantreiben wird. Denn wir können mit den nationalen Egoismen nicht so weitermachen wie bisher. Das Thema betrifft vor allem die Ärmsten, die sich vor den Folgen des Klimawandels nicht schützen können. Dessen ist sich Papst Leo XIV. sicher bewusst. Denn auch seine Diözese in Peru war arm und wer unter Armen gelebt hat, verändert seinen Blick.
DOMRADIO.DE: Sie sind Franziskaner. Wie sehr hat es sie persönlich bewegt, dass der Titel an den Sonnengesang und die Gedanken des Heiligen Franz von Assisi angelehnt ist?
Steiner: Er ist wunderschön! Letztlich hat schon der Heilige Franz von Assisi darauf hingewiesen, dass in unserer Schöpfung alles mit allem zusammenhängt. Die Beziehungen sind der rote Faden, der die Schöpfungsgeschichte mit der Gegenwart verbindet. Für Franziskus kommt alles von Gott her. Mit den Geschöpfen und durch alle Geschöpfe preist er Gott im Sonnengesang für alles, was ihm geschenkt ist. Das ist grundlegend. Solange wir Menschen die Schönheit der Schöpfung nicht bewundern, werden wir sie nur ausnutzen und die Sensibilität für das Zusammenleben und für das Transzendente verlieren. Wir können Gott in der Schönheit der Natur sehen. Laudato Si' ist ein wirklich bezaubernder Text, der zutiefst von der franziskanischen Spiritualität getragen ist.
Das Interview führte Ina Rottscheidt.