Sant'Egidio zur Corona-Pandemie: Sorge um alte Menschen

"Wir brauchen einen Richtungswechsel"

Die christliche Gemeinschaft Sant'Egidio sieht alte Menschen wegen der Corona-Pandemie besonders in Gefahr. In einem Aufruf warnt sie vor einer Zwei-Klassen-Medizin und fordert ein Umdenken.

Sant'Egidio: Große, anonyme Heime sind keine Wohnform der Zukunft / © Oliver Berg (dpa)
Sant'Egidio: Große, anonyme Heime sind keine Wohnform der Zukunft / © Oliver Berg ( dpa )

DOMRADIO.DE: Sie sagen Nein zu einem "selektiven Gesundheitswesen". Was meinen Sie damit? Wird da wirklich unterschieden zwischen Jung und Alt? 

Susanne Bühl: (Sprecherin von Sant'Egidio Deutschland): Wir sagen auf dem Hintergrund der Pandemie "Nein" zu einem selektiven Gesundheitswesen und meinen damit, dass Alter nie ein Kriterium sein darf bei der Frage: Wer wird behandelt? 

DOMRADIO.DE: War das denn der Fall in den letzten Wochen?

Bühl: Wenn wir die Berichterstattung verfolgt haben, war es ja leider so, dass in einigen europäischen Ländern nicht ausreichend Intensivbetten vorhanden waren und dann alte Menschen nicht behandelt werden konnten oder manchmal sogar die Behandlungen abgebrochen wurden, weil das Bett für jemand Jüngeren gebraucht wurde. 

DOMRADIO.DE: Auch in Deutschland gab es ja eine Diskussion über ähnliche ethische Fragen in der Corona-Krise...

Bühl: Ja, die Diskussion wurde geführt. Man muss sagen, dass Gott sei Dank in Deutschland die Standesorganisationen der Ärzte erklärt haben: "Alter ist für uns kein Kriterium bei der Frage: Behandeln wir oder nicht?" Und ich denke, dass wir in Deutschland ja auch in einer glücklichen Situation sind, dass bisher die Intensiv-Plätze ausgereicht haben, dass man also nicht grundsätzlich so eine Entscheidung treffen muss.

Andererseits kann ich mich erinnern, dass sich auch Palliativmediziner öffentlich geäußert haben. Zum Beispiel mit einer pauschalen Behauptung, die älteren Menschen würden sowieso lieber keine Intensivbehandlung haben wollen, wenn sie jetzt an Covic-19 erkranken. Da sind wir sehr kritisch, wenn über den Willen der alten Menschen so diskutiert wird, als ob man ihn schon kennt und solche pauschale Behauptungen aufstellt. Denn die Medizin sagt uns ja: Das Alter allein ist kein Grund, eine Behandlung für aussichtslos zu erklären. 

DOMRADIO.DE: Sie wünschen sich eine "moralische Revolte", damit bei der Behandlung alter Menschen ein Richtungswechsel erfolgt. Wie soll diese Revolte denn aussehen? 

Bühl: Wir wünschen uns eine Revolte insofern, als wir ein bisschen Sorge haben, dass man sich schnell daran gewöhnt, dass es eben so ist, dass Ältere sich leichter anstecken, vor allem auch die Älteren in Heimen. Wir haben die Zahlen gehört: In Deutschland sind 30 Prozent in der Corona-Toten in Heimen verstorben, europaweit sogar 50 Prozent. Das ist eine sehr hohe Zahl. Das bedeutet also, dass jeder alte Mensch, der in einem Heim ist, einfach ein viel größeres Ansteckungsrisiko hat - wie auch andere Personengruppen, die auf engem Raum nicht immer freiwillig zusammen sind.

Wir sind schockiert über diese hohen Zahlen und wir sagen, eine moralische Revolte muss auch sein, zu fragen: "Wie kann man so etwas in Zukunft verhindern?" Wir wollen das nicht einfach hinnehmen, so als ob Altsein bedeutet, unter solchen Umständen leben zu müssen. 

DOMRADIO.DE: Sie sind aber nicht nur schockiert, sondern sie haben auch getrauert und trauern auch in diesem Appell, der in vielen Tageszeitungen an diesem Montag abgedruckt ist. Sind denn die Verstorbenen und auch die älteren betroffenen Menschen ein bisschen in Vergessenheit geraten? 

Bühl: Gott sei Dank hat die Presse diese schockierenden Zahlen der Toten auch aufgegriffen. Ich denke schon, dass unsere Öffentlichkeit da sensibilisiert ist. Ich glaube, jetzt ist es wichtig zu sagen: "Wir wollen das nicht vergessen und wir wollen alles tun, damit so etwas in Zukunft vermieden werden kann."

Die Einrichtungen wünschen sich jetzt dringend, gut mit nötiger Schutzkleidung, mit nötigen Konzepten ausgerüstet zu werden. Es gibt ja auch ganz konkrete Fragen, zum Beispiel: "Wie häufig kann man Bewohner und Personal testen, um frühzeitig Ansteckungen festzustellen?" Das wird ja jetzt auch in der Öffentlichkeit diskutiert. Da geht es auch um finanzielle Aspekte.

Und was das Trauern angeht: Sant'Egidio kümmert sich seit vielen Jahren ehrenamtlich in vielen europäischen Städten um alte Menschen. Wir kennen wirklich viele alte Menschen in Altenheimen, haben sie regelmäßig begleitet. Es war dann so, dass die Heime komplett abgeriegelt wurden, dass keine Besucher mehr kommen durften, und wir dann tatsächlich über Dritte erfahren mussten, welche unserer Freunde verstorben sind. Wir haben getrauert und auch viel gebetet für sie und auch für die Angehörigen, die ja in der dramatischen Lage waren, dass sie nicht einmal mehr den Menschen beistehen konnten. 

DOMRADIO.DE: Auch das ist ein Punkt, den man in Ihrem Appell herauslesen kann: Sie kritisieren, dass alte Menschen häufig in Heimen leben. Welche Wohnformen für alte Menschen wären denn Ihrer Meinung nach besser? 

Bühl: In dem Appell schlagen wir vor, dass man von der Institutionalisierung wegkommt. Wir denken sehr schnell, wenn jemand mehr Hilfe und Unterstützung braucht, gibt es eben nur ein Heim als Lösung. Obwohl die allermeisten alten Menschen sich selber wünschen, in ihren eigenen vier Wänden bleiben zu können. Dafür gibt es ja schon Modelle: kleinere Wohngruppen, Wohngemeinschaften. Das sind aber im Moment immer schöne einzelne Modelle, die auch gelobt werden. Aber es gibt kein großes Angebot, das dann tatsächlich für Menschen geeignet ist, die so etwas möchten, vielleicht auch unabhängig von den eigenen finanziellen Ressourcen.

Wir denken, gerade die Tatsache, dass jetzt so viele Menschen in Heimen gestorben sind, muss ja noch mehr deutlich machen: Große anonyme Heime sind keine Wohnform der Zukunft. Es entspricht nicht dem Willen der Menschen, und es ist auch noch eine zusätzliche Gefahr, sich zu infizieren. Und daher denken wir, dass unsere Gesellschaften jetzt wirklich mehr Anstrengungen unternehmen sollten, um alten Menschen ein humaneres Wohnen auch mehr nach ihren Bedürfnissen zu ermöglichen.


Quelle:
DR
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