DOMRADIO.DE: Woran hat es gelegen, dass es mit den Geschwistern, besonders im Alten Testament, schief gelaufen ist? Das ging bei Kain und Abel bis zum Geschwistermord.
Stephanie Feder (Theologin und Projektleiterin beim Hildegardis-Verein): Grundsätzlich ist es so, dass Konflikte in dieser Geschwisterkonstellation abgebildet werden, die alles haben, was wir vielleicht heute noch erleben.
Ein Brudermord am Anfang ist ein steiler Einstieg. In der Geschichte wird jedoch erzählt, dass Kain und Abel ein Opfer vorgetragen haben und nur das Opfer von Abel akzeptiert wird. Berechtigterweise ist Kain darüber verägert. Dass er seinen Bruder umbringt, ist sicherlich ein tragisches Ende. Aber es zeigt eine Ungerechtigkeit, die auch heute noch unter Geschwistern möglich und erlebbar ist, dass die schon in der Bibel erwähnt wird.
DOMRADIO.DE: Die Brüder von Josef haben ihn in einen Brunnen geworfen. Auch Jakob hat Esau massiv betrogen. Esau und Jakob haben sich immerhin wieder vertragen. Die Geschichte von Josef und seinen Brüdern endet ebenfalls versöhnlich. Sind das Geschwistergeschichten mit einem Happy End?
Feder: Die auf jeden Fall. Es ist sehr wichtig herauszustellen, dass die Versöhnung sehr stark im Vordergrund steht. Das ist ein langer Prozess. Man sieht auch, durch welche Phasen gerade Jakob am Jabbok beispielsweise geht. Er ringt mit Gott und erhält einen neuen Namen.
Das ist die Vorbereitung darauf, dass er sich mit Esau wieder versöhnen kann. Das ist ein zentraler Aspekt, der sehr stark in den Vordergrund zu rücken ist. Versöhnung ist etwas, was wir in Geschwisterkonstellationen heute auch immer im Blick haben sollten.
DOMRADIO.DE: Im Neuen Testament gibt es auch Geschichten, die von einem großen Zusammenhalt unter Geschwistern erzählen. Die Schwestern von Lazarus trauern um ihren toten Bruder und trösten sich so gemeinsam. Lazarus wird dann von Jesus geheilt. Ist das Verhältnis von Geschwistern im Neuen Testament besser?
Feder: Das kann man grundsätzlich nicht so sagen. Die Geschwisterkonstellationen, die erwähnt werden, sind im Neuen Testament sicherlich einfacher in der Darstellung. Allerdings sind sie wahrscheinlich auch realistischer, weil es echte Beziehungen sind. Im Alten Testament sind es Geschichten, die uns etwas lehren sollen. Dass Maria, Marta und Lazarus Geschwister waren, kann man historisch eher nachweisen, als dass Josef so viele Brüder gehabt hat.
DOMRADIO.DE: Jesus als zentrale Figur in der Bibel hatte auch Geschwister. Die dürften es neben dem Prominenten gar nicht so einfach gehabt haben. Was wissen Sie über die Geschwister von Jesus?
Feder: Das ist keine leichte Frage, weil die immerwährende Jungfräulichkeit Marias dogmatische Schwierigkeiten in Hinblick auf die Geschwister Jesu mit sich bringt. Im Neuen Testament wird aber von Geschwistern Jesu erzählt. Vier Brüdern werden namentlich genannt. Es wird auch von Schwestern berichtet, die nicht mit Namen genannt werden.
Es gibt Thesen darüber, welche dieser Brüder auch in seiner Jüngerschaft waren. Sicherlich war er derjenige, der alles vorgegeben hat und die anderen mussten sich unterordnen. Aber wir wissen nichts Genaues über diese Geschwisterkonstellation.
DOMRADIO.DE: Im Grunde geht es bei den meisten Geschichten in der Bibel um Konkurrenz. Es geht oft um die Frage: "Wie schaffe ich es auszuhalten, dass mein Vater mich nicht mehr liebt als meinen Bruder, obwohl ich frömmer bin?" Wie bei der Geschichte vom barmherzigen Vater, der den abtrünnigen Sohn mit den offenen Armen empfängt. Was kann man von den Geschwisterpaaren in der Bibel lernen?
Feder: Sie erinnern uns daran, dass wir in Konstellationen unterwegs sind, die nicht so stark von Gerechtigkeit geprägt sind. Es geht bei den Geschwistern in der Bibel aber auch darum, dass sich Konstellationen bei großen Herausforderungen bewähren müssen. Es sind Grundkonflikte, die uns im Laufe unseres Lebens begegnen können. Unglaublich viel können wir bei den Konflikten mit Geschwistern für unser Leben lernen, dann wenn wir Konflikte in anderen Feldern begegnen. Das kann uns die Bibel an dieser Stelle mitgeben, dass Konflikte ganz natürlich sind und nichts Ungewöhnliches.
DOMRADIO.DE: In der katholischen Kirche werden die Gläubigen beispielsweise zur Predigt mit der Bezeichnung "Schwestern und Brüder" begrüßt. Damit sind alle Christen gemeint. Sind wir alle Schwestern und Brüder?
Feder: Biologisch sicherlich nicht. Es gibt eine Stelle, in der Jesus sagt, meine leiblichen Geschwister und auch meine Mutter spielen für mich nicht so eine große Rolle - für mich ist entscheidender, dass ihr alle meine Brüder und Schwestern seid. Das Verwandtschaftsverhältnis ist hier nicht auf biologischer Basis gegründet, sondern darauf, ob wir uns verstehen. Das kann man aus der Geschwisterperspektive gut ausweiten. Denn diese Konstellationen mit Menschen, die uns im Alltag begegnen, sind ja durchaus vergleichbar mit dem, was wir unter Geschwistern erleben.
Das Interview führte Tobias Fricke.