"Wie viel Güte muss ein Mensch in sich tragen, um in der bedrohlichsten Situation seines Lebens zu sein und trotzdem noch für einen anderen zu beten, dass er sicher nach Hause kommt?"
Diese Frage ließ die Journalistin Sophia Maier nicht mehr los, nachdem sie im Frontgebiet der Ukraine unterwegs war. Dort begleitete sie eine Hilfsorganisation, die unter Lebensgefahr Lebensmittel und Medikamente zu den Menschen vor Ort brachte. In einem dunklen, feuchten Keller traf sie auf ältere Frauen, die dort seit Monaten ausharrten. Sie empfingen sie mit offenen Herzen, erzählten ihr ihre Geschichten und schenkten ihr Vertrauen. Beim Abschied dankten sie ihr und baten für ihre sichere Rückkehr. Obwohl sie selbst nicht wussten, wie es für sie weitergeht.
Wenn Glaube Grenzen überwindet
Sei es Afghanistan, Syrien, Palästina, der Libanon, die Ukraine oder Griechenland. Gebet und Glaube begegnen ihr immer wieder bei ihren Auslandsaufenthalten. Auch wenn sie selbst nicht konfessionell gläubig ist, zitiert sie in ihrem Buch "Herz aus Stacheldraht" religiöse und spirituelle Quellen, die universelle ethische Werte vermitteln. Die Thora rufe dazu auf, den Nächsten zu lieben wie sich selbst. Der Koran mahne, Gutes für Bedürftige zu tun. Das Neue Testament lege nahe, Gewalt nicht mit Gewalt zu begegnen.
"Gerade in Kriegs- und Krisenregionen habe ich erlebt, wie schnell Religion als etwas Trennendes, im schlimmsten Fall auch als Rechtfertigung für Gewalt missbraucht werden kann". Sie wolle zeigen, dass auch eine gemeinsame Sprache für Frieden, Versöhnung und Menschlichkeit gefunden werden könne.
Frieden mit den Feinden
Abed Wadi und Margalit Moses sei das gelungen. Margalit Moses war Geisel in den Tunneln der Hamas. Sie habe das Grauen überlebt und sage dennoch: "Man kann nur mit den Feinden Frieden machen", zitiert Maier. Der Palästinenser Abed Wadi, dessen Bruder kurz nach dem 7. Oktober von radikalen Siedlern getötet wurde, halte ebenfalls an seinem Glauben an Frieden und Versöhnung fest. “Es sind Menschen, die Schicksalsschläge erlitten haben, wie sie für viele in Deutschland und anderen westlichen Gesellschaften kaum denkbar sind“, macht Maier klar. Trotzdem würden diese "Menschen, die das tiefste Leid erfahren haben", nicht aufhören, an das Gute zu glauben. "Wenn sogar sie Versöhnung mit der anderen Seite wollen und fest daran glauben, dann sollten doch auch wir alle dazu fähig sein", findet die Autorin.
Glauben, um zu überleben
Immer wieder habe sie erlebt, wie zentral der Glaube für viele sei, um auch selbst im Dunkel nicht den Halt zu verlieren. Das sei auch oftmals so, wenn sie mit den Menschen in Gaza spreche. Immer sei es der Glaube an Gott, der ihnen die Kraft gebe weiterzumachen. "Nicht nur körperlich, sondern auch mental zu überleben, jeden Tag", betont die Autorin. Als Frau aus einer westlichen Gesellschaft, die nicht sonderlich religiös groß geworden ist, berühre sie das wirklich sehr. "Wow, der Glaube ist das, was euch wirklich am Leben erhält!" Genau das denkt sie sich, wenn sie von außen darauf blickt.
Der Mensch dahinter
Neben den äußeren Umständen ihrer Arbeit lässt Maier die Leserinnen und Leser auch spüren, was es bedeutet, als Mensch mitten in einer Extremsituation zu stehen. So schreibt sie von einer Situation an der ukrainischen Grenze, in der mehrere Raketen in ihrer Nähe einschlugen und sie Todesangst empfand. In solchen Momenten gehe man in den "Funktioniermodus", so beschreibt sie es. “Ich habe gearbeitet. Ich habe meine Kamera angemacht und gefilmt, obwohl ich in dieser existenziellen Situation war“, berichtet sie von dem Vorfall. Jahre vor diesem Erlebnis habe ihre Schwester ihr eine Armkette mit einem kleinen Schutzengel geschenkt. "Sie ist an diesem Tag nach dem Raketenangriff abgefallen", erzählt die Journalistin. Jetzt hat sie einen neuen Schutzengel von ihrer Schwester bekommen. Für sie hat das etwas Spirituelles, etwas Symbolisches. "Ich glaube, dass mich dieses Geschenk beschützt, weil es von jemandem kommt, der mich liebt und den ich liebe." Das helfe ihr und gebe ihr Halt, dieses Erlebnis gut zu verarbeiten.
Im Westen fehlt die Nähe
Halt und Orientierung findet sie auch in Begegnungen mit Menschen, die sie tief beeindruckt und geprägt haben, wie der verstorbene CDU-Politiker Norbert Blüm, dem sie in ihrem Buch mit großer Wertschätzung und Respekt begegnet. In Idomeni sprach Blüm vom "Teilen des Daseins". Ein Gedanke, der die Journalistin bis heute begleitet.
Für sie sei echtes Mitgefühl auch ohne eigene Leidenserfahrung möglich, doch sie glaubt, dass wahres Mitfühlen vor allem dort entsteht, wo man bereit sei, Nähe zuzulassen und das Leid nicht nur zu beobachten, sondern es ein Stück weit mitzutragen. "Wenn ich auf Deutschland und die aktuellen Debatten blicke, sei es Migration, Flucht oder Minderheiten, fällt mir besonders der teils verrohte Diskurs auf. Vorurteile, Stigmatisierung und eine Sprache, die oft entmenschlichend ist", so die Investigativjournalistin. Das thematisiert sie auch in ihrem Buch. Sie glaubt, es helfe, die Realität einmal selbst zu erleben, vor Ort zu sein, mit den Menschen ins Gespräch zu kommen. Erst dann entstehe echtes Mitgefühl, das tief aus dem Inneren komme.
Nah am Krieg, nah am Menschen
Gerade deshalb sucht Maier die Nähe zum Geschehen, auch wenn sie gefährlich ist. "Ich bin mir meines großen Privilegs bewusst. Als Journalistin habe ich die Möglichkeit, vor Ort zu sein. Das Leid in Palästina zu sehen, das Elend in griechischen Geflüchtetenlagern zu erleben. Zu beobachten, wie Menschen auf europäischem Boden leben müssen. In der Ukraine, in Afghanistan, überall". Ohne diese Erfahrungen hätte sie dieses Buch mit seiner Botschaft wohl nie schreiben können, sagt sie. Es gehe ihr nicht darum, dass alle einer Meinung sein müssen. Unterschiedliche Haltungen zu politischen Themen wie Migration, Flucht oder Waffenlieferungen seien völlig legitim. Sie wünsche sich nur, dass das Unverhandelbare wieder unverhandelbar werde: Menschenwürde, Menschenrechte, Empathie und Mitgefühl. Es brauche einen "Blick auf den anderen als Mensch. Ganz gleich, wer er ist", sagt die Kriegsreporterin.