Mein Sommer: Sozialethiker Wolfgang Ockenfels

Ein portugiesisches Sommerereignis

Journalisten sprechen gerne vom Sommerloch. Von der Zeit im Jahr, in der scheinbar nichts passiert und eine Nation Auszeit nimmt. Aber Auszeit wovon genau? domradio.de hat Menschen aus Kirche und Gesellschaft gefragt. Diesmal in der Sommerreihe: Der Dominikaner und Sozialethiker Prof. Wolfgang Ockenfels mit einem portugiesischen Sommererlebnis - einschließlich eines "Wunders".

 (DR)

"Mit Freunden ist es wie mit Brillen: Am dringendsten braucht sie, wer sie verloren hat, und wer sie sucht, muss sie schon gefunden haben. Das scheint auf den ersten Blick weit hergeholt und auch ein wenig paradox zu sein, verständlich nur für Brillenträger, die aber ein Lied davon singen können. Ein Klagelied wohlgemerkt, für das die eitlen Sonnenbrillenträger kaum Verständnis aufbringen. Denen ist die Sehnot der anderen meist gleichgültig. Denn die im Dunkeln sieht man nicht, auch wenn die ständige Abhängigkeit von einer Brille eigentlich ins Auge fallen müsste, gerade bei Sonnenschein.

Es ist nun an der Zeit, mich ohne Wenn und Aber als Brillenträger zu entlarven und in der mir eigenen Bescheidenheit von einer Begebenheit zu berichten, die mir vor einigen Jahren widerfuhr. An dieser Geschichte ist so gut wie jedes Wort wahr. Sie verdient nicht nur Mitleid, sondern auch das Erstaunen der flüchtigen Zeitgenossen. Denen das Schicksal manchmal einen bösen Streich spielt, ist diese Geschichte gewidmet. Denn sie handelt von einer freundschaftlichen Hilfe der besonderen Art.

Also meine Brille war mir verloren gegangen. Das gute Stück, das mir eigenwillig auf der Nase herumtanzt, wenn ich am Sandstrand entlanglaufe. Mein ständiger Begleiter, der mich an der Grenzlinie zwischen Land und Meer sicher entlangführt. Meine unentbehrliche Sehhilfe, die den Augen erst den nötigen Durchblick verschafft, um sie für den Straßenverkehr, der auf dem Weg zum Urlaubsort herrscht, tauglich zu machen. "Beim Führen von Kraftfahrzeugen sind geeignete Korrekturgläser zu tragen", lautet der notorische Eintrag im Führerschein, der den Fahrer des Autos zum Sklaven seiner Brille abstempelt.

Diese einseitige Abhängigkeit verhindert natürlich jedes Freundschaftsverhältnis, das die Freiheit der Partner voraussetzt. Philosophisch gesehen und überhaupt verhindert die Brille die freie Selbstentfaltung der Persönlichkeit - und ermöglicht sie zugleich. Leider fehlt uns jetzt die Zeit, diesem Grundsatzproblem nachzugehen.

Der Gedanke an den Verlust meiner komplizierten Korrekturgläser, die der Optiker mit einem stabilen Gestell zu einer Brille zusammengefügt hatte, erfüllt mich heute noch mit Schrecken. Doch erinnere ich mich immer noch gerne, wenn auch schaudernd an dieses Ereignis. Es geschah am nicht mehr ganz helllichten Nachmittag eines schwülen Tages im August eines Jahres, das ich inzwischen vergessen habe, in einem anmutigen Badeort im Norden Portugals, dessen Namen mir leider entfallen ist. Es sind die geschichtsträchtigen Paläste und prächtigen alten Klöster, die Portugals Norden zu einem Eldorado für katholische Kunstkenner machen. Vormittags gibt man sich den Strapazen höherer Kulturbildung hin, der frühe Nachmittag ist der Siesta geweiht, und spät nachmittags wendet sich der Naturliebhaber besinnlich dem Atlantik zu.

Ich saß auf einem Stein so nah am Meer, dass die nackten Füße gelegentlich von schwachen Wellen überflutet wurden, betrachtete blinzelnd die Sonne, die sich ihrem Untergang näherte, und dachte wehmütig über den Verlauf der Geschichte und das Schicksal der Welt nach. Leichte Resignation beschleicht das Gemüt gewöhnlich bei Fragen, die um den Sinn des ablaufenden Lebens und beginnenden Sterbens kreisen. Eine sentimentale Stimmung, die um den Charme morbider Schicksalsergebenheit bereichert wird, wenn der Portugalbesucher die traurigen Fado-Melodien in seinen Ohren nachklingen lässt.

Dieser dekadenten Ruhe war auf Dauer nicht zu trauen, weshalb ich mich am Gedanken eines Sturms, der jeder Ruhe vorausgeht und ihr nachfolgt, aufzurichten begann. Belebender Sturm war jetzt das, was nottat. Was mir gerade noch gefehlt hatte, nämlich eine aufmunternde Unterbrechung der gähnenden Langeweile, kam aber anders, als ich dachte.

Es schlug plötzlich mit Naturgewalt auf mich ein, erfasste mich und riss mich zu Boden, in den nassen harten Sand hinein, so dass ich beinahe die Besinnung verlor. Das hatte ich nicht gewollt, nicht einmal geahnt, dass da eine einzelne Welle so heimtückisch und kraftvoll sein konnte, sich hinterrücks an mich heranzumachen, um mich zu überrollen und - wie sich herausstellen sollte - zu bestehlen. Ein erstes vorsichtiges Tasten, ein prüfendes Bewegen der Glieder, ein benommener Blick. Alles in Ordnung. Aber Moment, da fehlt doch was. Mein Gott, meine Brille! Meine Brille ist weg.

Da hatte sich eine Welle einen grausamen Scherz erlaubt. Nur einen kleinen Sturm hatte ich herbeigewünscht, und ich hätte mich auch gerne rechtzeitig auf ihn vorbereitet. Aber es kam die große Welle, der Quereinschlag des Schicksals. Zu spät, sich auf das Gebot der Stunde einzustellen und mit dem Schlimmsten zu rechnen, wenn es in Sekundenschnelle über einen kommt. Es hatte mich bereits erfasst und zu Boden geworfen. Mehr noch: Meine Brille war mir verloren gegangen.

Die Verzweiflung, der ich nahe war und die bereits mit spitzen Fingernägeln mein Nervenkostüm durchlöcherte, kann nur ermessen, wer selber Träger einer Brille ist und einer Familie entstammt, die schon in der dritten Degeneration Augengläser benötigt. So war mir der Beruf des Optikers von meinem Vater zugedacht worden. Doch zog ich es vor, Theologie zu studieren, um einen tieferen Durchblick zu bekommen. Doch was hilft die Theologie, wenn man in den Ferien seine Brille verloren hat?

Was ist da noch der Mensch ohne Zweitbrille, die er zu Hause liegengelassen hat? Wie ein blindes Huhn, das sich im Sande verläuft. Und der auf gar keinen Fall fahrtüchtig ist. Und erst recht nicht in der Lage, die Sehenswürdigkeiten des Landes wahrzunehmen. Weit und breit war keine freundschaftliche Hilfe in Sicht.

Inzwischen hatte ich mich aus eigener Kraft wieder erhoben und ging auf wackeligen Beinen am Meer entlang, das sich wieder beruhigt zu haben schien. Keine sichtbare Spur von Welle und Brille. Alles verschwamm vor meinen Augen, die Farben, Gestalten und Konturen der Umwelt. Die objektive Unterscheidung von Land und Meer, von Sand und Wasser war in das höchst unsichere Entscheidungsvermögen des brillenverlassenen Subjekts verlagert. Die brillenlose Existenz des Menschen gründet im Unergründlichen. So erfuhr ich mich zunächst einmal sehr konkret als das Mängelwesen, dem erst das technisch-soziale Gestell einer Brille zur wahren Menschwerdung verhilft.

Unsicher wankend und ziellos war der Gang im Auf und Ab am ungefähren Strand entlang, vorsichtig die Schritte hin und her, Widerstände und Abgründe vermeidend. Was nun? Was tun? Es musste etwas geschehen.
Die wohlverdienten und dringend benötigten Ferien schienen ein gewaltsames Ende gefunden zu haben. Vorbei und vergessen. Mein Gott, warum gerade mir so etwas? Womit hatte ich das verdient? Wie kann ein allmächtiger und zugleich gütiger Gott so etwas zulassen? Und lässt sich Gott angesichts des Übels, das dieser Brillenverlust darstellte, und des Leidens, dem der kurzsichtig brillenlose Mensch in der modernen Welt hilflos ausgesetzt ist, überhaupt noch theologisch rechtfertigen?

Berechtigte Fragen, zweifellos, die mir da durch den Sinn gingen, während mir das Stapfen und Stolpern durch den bodenlosen Sand zunehmend Mühe bereitete. Fragen überdies, die durch die Trauer über den Verlust und von tiefem Selbstmitleid hervorgerufen wurden. Aber eben auch theologische Grundfragen, auf die sich keine endgültigen Antworten finden lassen. Schließlich war ich nicht nach Portugal gefahren, um theologische Probleme zu lösen, sondern mich von ihnen zu erholen.

In dieser Stunde der Not musste ich an meine gute einfache Mutter denken. Sie hatte mich gelehrt, gewisse notorisch nagende und zweifelnde Fragen durch bestimmte Gegenfragen zu neutralisieren. Ich konnte von Glück reden, dass mir Mutters ewige, in Frageform gekleidete Weisheiten gerade jetzt wieder einfielen. Sie fragte nämlich immer, wenn mir als Kind ein Unglück passierte: Hat's uns geschadet? Wer weiß, wozu es gut ist? Und hätte es nicht noch viel schlimmer kommen können?

Natürlich hätte es das. Ich hätte nämlich nicht nur die Brille, sondern auch mein Leben verlieren können. Und im Vergleich mit dem großen Erdbeben von 1755, das über ein Drittel von Lissabon zerstörte, reduzierte sich mein Problem auf Null. Leider stellte sich dieser Trost als unzureichend heraus, denn nach wie vor vermisste ich schmerzlich das Ding auf der Nase. Da hilft nur eines, aber was?

Auch von meinem Reisebegleiter, dem guten Freund A., der mich in seiner Sehschwäche bei weitem übertrifft, war keine Hilfe zu erwarten. Er saß wohl irgendwo in einem Strandcafé, nippte an einer kühlen Cola und blickte durch dicke Brillengläser abwechselnd in die Zeitung und aufs weite Meer hinaus. Was sind da noch menschliche Freundschaften wert? Gerade dann braucht man Freunde und seine Brille, um sie zu finden, wenn man sie aus den Augen verloren hat.

Woher die Hilfe in der Not? Not lehrt beten, hatte mich mein alter Vater gelehrt, und er betete viel. Nicht dass er sich sofort und direkt an den obersten Chef des Himmels und der Erde gewandt hätte, um mit seinen Klagen und Bitten durchzudringen. Sondern er zog es vor, gewisse Umwege zu wählen und die Vermittlung des himmlischen Personals in Anspruch zu nehmen. Seine besten Freunde waren die Engel und Heiligen. Sein persönlicher Schutzengel muss viel Arbeit mit ihm gehabt haben. Und den heiligen Antonius rief er an, sobald er etwas verloren hatte, seine Schlüssel oder sein Gedächtnis etwa.

Mittlerweile waren meine Schritte durch den Sand immer schleppender geworden, und die Sonne neigte sich bedenklich ihrem eigenen Untergang zu. Der heilige Antonius war also arbeitsteilig im Himmel für verlorene Gegenstände zuständig, schoss es mir durch den Kopf. Wie gut, dass mir wenigstens sein Name wieder einfiel. Wofür ich dem Heiligen gerade danken wollte, um ihn für mein Anliegen einzustimmen, als sich dieser nörgelnde Zweifel wieder meldete: Hatte dieser sogenannte Heilige überhaupt historisch existiert? War er nicht vielleicht schon längst einer Liturgiereform zum Opfer gefallen? Grenzt es nicht an Magie, überhaupt Heilige anzurufen?

Es hätten sich vielleicht noch weitere Einsprüche erhoben, wäre nicht die Zeit davongelaufen. Jetzt drängte sie zur Entscheidung, bevor die Schatten des Abends in die Finsternis der Nacht übergingen. "Also", begann ich zögernd zu sprechen, "Heiliger Antonius, ob Du nun existierst oder nicht," - ich schluckte und fuhr mit fester Stimme fort: "aber ich erwarte jetzt von Dir, dass Du mir diese verdammte Brille wiederbringst."

Erschrocken über die eigene unheilige Heftigkeit bereute ich diese allzu menschliche Provokation des Heiligen und ging in gebeugter Demutshaltung mit vorsichtigen Schritten den Weg zurück. Dabei bemerkte ich mit zusammengekniffenen und tränenfeuchten Augen ein merkwürdig gebogenes Stöckchen aus dem Sand ragen. Ich zog daran. Und hielt den Bügel meiner Brille, ja sie selber vollständig und völlig unbeschädigt in der Hand.
Wenn das kein Zufall war, so ist es ein Wunder. Dafür hat der heilige Antonius zum Dank eine Kerze verdient. Seit dem Brillenwunder von Portugal, das ich hoffentlich nie vergessen werde, pflege ich freundschaftliche Beziehungen besonders zu diesem Heiligen, denn ich bin ziemlich vergesslich und verliere manchmal Dinge, die mir viel bedeuten. Auch befürchte ich gelegentlich, dass mir eine Fischgräte im Halse steckenbleibt. Dann wird der heilige Blasius angerufen. Und je mehr man in die Jahre kommt, sollte man den heiligen Josef um eine gute Sterbestunde bitten, und darum, dass sie erst im hohen Alter und bei voller Gesundheit eintritt. Und für alle hoffnungslosen Fälle hilft ohnehin Maria, die Mutter Gottes.

Kein Wunder also, dass der Kerzenverbrauch mit dem Grad der Heiligenverehrung ständig steigt. Und was heißt hier Aberglaube, wenn man die heiligen Nothelfer in der Not um ihre freundschaftliche Hilfe bittet? Dafür sind sie schließlich da! Sie müssen Gott sehr nahestehen, sonst könnte man sich ihre heilsame Kraft nicht erklären. Jedenfalls haben sie, die Vorbilder des Glaubens, mir den Zugang zu den Wundern Gottes gewaltig erleichtert.
Überflüssig zu erzählen, wie schön der Urlaub damals in Portugal war, nachdem mir der Freundschaftsdienst des heiligen Antonius widerfuhr. Meine Brille ist einige Jahre später infolge natürlicher Abnutzung von mir gegangen. Und wenn sie nicht gestorben wäre, so lebte sie noch heute. Die nachfolgenden Brillen pflege ich mit einer starken Kordel am Kopf festzubinden, sobald ich mich wilden Gewässern nähere. Denn man soll seine Freunde, die Heiligen, nicht allzu sehr in Anspruch nehmen."