Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte wird 60

Ein Stück verwirklichte Utopie

Sie liest sich gut, aber in weiten Teilen wie eine Utopie. Nicht nur in Bezug auf kriegsgebeutelte Länder in Afrika, auch in Deutschland scheint die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vor allem eine Sammlung frommer Wünsche. Doch vieles in dem Dokument, das vor 60 Jahren, am 10. Dezember 1948, von der Generalversammlung der Vereinten Nationen in Paris verabschiedet wurde, ist heute in nationalem und internationalem Recht verankert.

Menschenrechte: Auch im Jahr 2008 noch nicht überall garantiert (epd)
Menschenrechte: Auch im Jahr 2008 noch nicht überall garantiert / ( epd )

Sei es das «Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung» von 1966 oder das «Übereinkommen gegen Folter» von 1984, das immerhin 145 Länder ratifiziert haben - Konventionen, internationale Pakte und Verfassungen von Staaten gehen auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte zurück. Ein Kernbestand von Menschenrechten werde seitdem universell als Mindeststandard akzeptiert, wie die Behandlung von Ausländern, Schutz vor Enteignung und Justizgrundrechte wie der Anspruch auf einen Richter, schreibt der Rechtswissenschaftler Eibe Riedel.

Das historische an der Allgemeinen Erklärung sei unter anderem gewesen, dass die Staaten erstmals das Verständnis der Souveränität als bloßer «Nicht-Einmischung» überwunden hätten, sagt der Direktor des Deutschen Instituts für Menschenrechte, Heiner Bielefeldt. Vorher habe es nur reine «Staatenverkehrsordnungen» gegeben, die lediglich die zwischenstaatlichen Beziehungen regelten. «Menschen kamen darin nicht vor.» Mit der Erklärung habe sich dies geändert: «Der Umgang des Staates mit den Menschen ist nicht mehr nur innere Angelegenheit», betont Bielefeldt.

Über den Spielraum der Länder wurde bei der Formulierung von verbindlichen Konventionen und Pakten allerdings erbittert gestritten. Während des Kalten Krieges beispielsweise prallten die Vorstellungen beider Seiten aufeinander. Der Westen wollte vor allem die Freiheitsrechte des Einzelnen festlegen. Der Osten maß den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten für das Kollektiv ein stärkeres Gewicht bei.

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte genießt Riedel zufolge jedoch eine große Akzeptanz, gerade weil jedes einzelne UN-Mitglied das Verhältnis Staat-Gesellschaft selbst bestimmen kann. «Es gibt keinerlei Vorkehrung gegen Auslegungsdifferenzen.»

Auch die muslimischen Länder, die Forderungen in Menschenrechtsfragen teilweise unter dem Hinweis auf einen kulturellen Imperialismus des Westens verweigern, haben in den 80er und 90er Jahren Menschenrechtserklärungen abgegeben, die zum Beispiel ein absolutes Folterverbot enthalten. Allerdings stellen diese immer eine Verbindung zum Islam her und werden zum Teil der Scharia, dem traditionellen islamischen Rechtssystem, unterstellt. Danach kann schwerer Diebstahl beispielsweise mit dem Abtrennen einer Hand bestraft werden.

Doch obwohl die Achtung und der Schutz der Menschenrechte in den 60 Jahren seit der Erklärung fortgeschritten sei, blieben sie für viele Menschen ein uneingelöstes Versprechen, gibt die Generalsekretärin der deutschen Sektion von Amnesty International, Barbara Lochbihler, zu bedenken. «Willkürliche Inhaftierungen und 'Verschwindenlassen' existieren in vielen Teilen der Welt ebenso wie außergerichtliche Hinrichtungen und Sklaverei.» Armut und Diskriminierung seien gravierende Verletzungen der wirtschaftlichen und sozialen Rechte und Ursache für gewaltsam ausgetragene Konflikte.

Amnesty International listet im Menschenrechtsbericht dieses Jahr 150 Länder auf, in denen Menschenrechte missachtet werden. Die Autoren schreiben von der Ermordung von Frauenrechtlerinnen in Kolumbien, von der Verhaftung von Kindern in Pakistan, schweren Angriffen auf Homosexuellen unter den Augen der Sicherheitskräfte in Ungarn oder angolanischen Familien, die durch Zwangsräumung obdachlos wurden. Es gebe kein Land, keine Kultur, in der alle Menschenrechte umgesetzt würden, bedauert Bielefeldt.

Auch in Deutschland lässt sich Vieles finden, das nach der Allgemeinen Erklärung wider die Menschenrechte ist. Allein die Tatsache, dass Frauen laut Statistischem Bundesamt immer noch fast ein Viertel weniger verdienen als Männer, widerspricht dem in Artikel 23 verankerten Grundsatz des gleichen Lohns für die gleiche Arbeit. Auch das im selben Artikel festgehaltene Recht auf Arbeit bleibt uneingelöst.

Deshalb ist die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte Bielefeldt zufolge auch heute noch unverzichtbar. Ihre Aktualität beruhe auf ihrer Idee, die aus Unrechtserfahrungen stamme. Das Unrechtsbewusstsein müsse allerdings immer wieder ausgeweitet werden, betont Bielefeldt. So wie Anfang des Jahres eine neue UN-Konvention zur Gleichstellung von Behinderten verabschiedet wurde. «Das haben wir mittlerweile gelernt», sagt der Rechtsphilosoph. «Dennoch ist der Anspruch der Menschenrechte nirgendwo eingelöst und auch deren Formulierung unvollendet.»