Der Gewissenskonflikt orthodoxer Christen in der Ukraine

"Sie lehnen eine Politisierung ihres Glaubens ab"

Die meisten Christen in der Ukraine sind russisch-orthodox. Und ihr Kirchenoberhaupt, der Moskauer Patriarch Kyrill I., ist ein enger Verbündeter von Wladimir Putin. Wie gehen die Ukrainer mit diesem Konflikt um?

Drohende Gefahr eines Krieges zwischen Russland und der Ukraine / © Tomas Ragina (shutterstock)
Drohende Gefahr eines Krieges zwischen Russland und der Ukraine / © Tomas Ragina ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: Das Kirchenoberhaupt vieler Ukrainer steht dem potenziellen Kriegsgegner, dem russischen Präsidenten Wladimir Putin sehr nahe. Bringt das die russisch-orthodoxen Ukrainer in eine Art Gewissenskonflikt?

Dr. Johannes Oeldemann (Direktor am Johann-Adam-Möhler-Institut für Ökumenik in Paderborn und Orthodoxie-Experte): Es bringt sie natürlich in einen Konflikt, vor allen Dingen aber einen Konflikt, der von den ukrainischen Nationalisten an sie herangetragen wird. Denn die orthodoxen Christen in der Ukraine bezeichnen sich selbst auch als ukrainisch-orthodox, nicht als russisch-orthodox, selbst wenn sie zu der Kirche gehören, die mit dem Moskauer Patriarchat verbunden ist. Dazu muss man wissen, dass es derzeit in der Ukraine zwei orthodoxe Kirchenstrukturen gibt: Eine autokephale, also selbständige "Orthodoxe Kirche der Ukraine", die aber erst vor gut drei Jahren begründet worden ist, und die mit dem Moskauer Patriarchat verbundene "ukrainische-orthodoxe Kirche", die sich aber bewusst auch als solche versteht. Und sie hat einen autonomen Status innerhalb des Moskauer Patriarchats.

Dr. Johannes Oeldemann / © Möhler-Institut
Dr. Johannes Oeldemann / © Möhler-Institut

DOMRADIO.DE: Der Konflikt ist nicht neu: Vor acht Jahren hat Russland die Krim eingenommen, seitdem schwelt auch der Konflikt in der Ostukraine und, Sie haben es gerade schon genannt, es hat sich eine autokephale Kirche in der Ukraine abgespalten. Hängt das mit dem Unmut gegenüber Moskau zusammen?

Oeldemann: Das hat sicher mit dem Unmut zu tun, dass die russisch-orthodoxe Kirche die Unabhängigkeitsbestrebungen, die es in der Ukraine seit dem Zerfall der Sowjetunion gab, nicht genügend berücksichtigt hat und dieser Kirche zwar einen autonomen Status verliehen hat, aber sich gegen eine Autokephalie, eine völlige Selbstständigkeit dieser Kirche, gewehrt hat. Und dann hat das Patriarchat von Konstantinopel im Jahr 2018 die Initiative zur Gründung dieser eigenständigen Kirche ergriffen, was auch zu einer Aufkündigung der Kirchengemeinschaft zwischen Moskau und Konstantinopel geführt hat. Was aber interessant ist: Wenn man auf jüngste Umfragen zur Kirchenzugehörigkeit schaut, erklären sich zwar relativ viele Ukrainer als zu dieser neuen Kirche zugehörig, aber ein sehr großer Anteil, etwa ein Drittel, bezeichnet sich auch einfach als schlicht orthodox. Sie wollen sich keiner dieser beiden Kirchen zuordnen. Und nach meiner Interpretation deutet das darauf hin, dass sie eine Politisierung ihres Glaubens ablehnen und sich davon distanzieren.

Orthodoxe Kirchen in der Ukraine

Rund 70 Prozent der 45 Millionen Ukrainer bekennen sich zum orthodoxen Christentum. Sie gehören allerdings zwei verschiedenen Kirchen an: der ukrainisch-orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats und der autokephalen (eigenständigen) "Orthodoxen Kirche der Ukraine".

Orthodoxe Kirche der Ukraine / © Sergey Korovayny (KNA)
Orthodoxe Kirche der Ukraine / © Sergey Korovayny ( KNA )

DOMRADIO.DE: Spielt diese ganze Situation auch eine Rolle für die Ökumene? Wie steht zum Beispiel die russisch-orthodoxe Kirche zur autokephalen ukrainischen Kirche?

Oeldemann: Sehr kritisch. Sie betrachtet diese Kirche als eine schismatische, also sich in Kirchenspaltung befindende Kirche. Und man könnte vielleicht auch sagen, dass die ukrainische-orthodoxe Kirche dadurch, dass sie die Aufmerksamkeit ihrer Gläubigen auf diesen inneren Feind, wenn man so will, lenkt, die Schismatiker, ein bisschen von der Auseinandersetzung mit dem äußeren Feind, sprich Russland, ablenkt und dadurch versucht, sich nicht so eindeutig zu positionieren in diesem Konflikt, sich praktisch herauszuhalten oder neutral zu verhalten.

DOMRADIO.DE: Was sagen die lokalen russisch-orthodoxen Kirchenführer in der Ukraine jetzt? Sprechen sie sich für Russland aus oder halten sie sich aus der Politik raus?

Oeldemann: Sie versuchen sich komplett herauszuhalten und sich nicht deutlich zu positionieren. Und interessanterweise gilt das nicht nur für die orthodoxen Kirchenführer in der Ukraine, die zum Moskauer Patriarchat gehören, sondern auch für den Moskauer Patriarchen Kyrill selbst. Der versucht, sich nicht eindeutig festzulegen in diesem Konflikt und im Gegenteil eher die geistliche Verbundenheit von Russen und Ukrainern hervorzuheben.

DOMRADIO.DE: Was ist denn, wenn ich als Ukrainerin oder Ukrainer meiner russisch-orthodoxen Kirche den Rücken kehren will? Man kann ja nicht einfach austreten wie in Deutschland, oder?

Oeldemann: Nein, so eine formelle Kirchenmitgliedschaft gibt es da eigentlich nicht, sondern wenn, dann wird sich das dahingehend zeigen, dass die Gläubigen einfach nicht mehr den Gottesdienst der ukrainisch-orthodoxen Kirche besuchen, die mit dem Moskauer Patriarchat verbunden ist, sondern einen Gottesdienst der orthodoxen Kirche der Ukraine, also der unabhängigen Kirche, besuchen. Allerdings deuten die Zahlen darauf hin, dass die aktiven Gläubigen doch eher aufseiten der ukrainisch-orthodoxen Kirche sind, während sich vielleicht diejenigen, die man als eher nominell orthodox bezeichnen würde, sich stärker zur unabhängigen Kirche bekennen.

Das Interview führte Michelle Olion.

Quelle:
DR