DOMRADIO.DE: Kanzler Merz hat nach Abschluss der CDU-Präsidiumssitzung die klare Abgrenzung zur AfD noch einmal bekräftigt. Und dabei interessanterweise das Wort Brandmauer gar nicht erst in den Mund genommen. Wie deuten Sie das?
Dr. Thomas Arnold (Theologe, Berater der Deutschen Bischofskonferenz und Mitglied der CDU-Grundwertekommission): Ich deute das gar nicht. Aber ich sage, wir sollten die Diskussion zur Frage Brandmauer oder nicht Brandmauer beenden. Wir sollten – und das ist gestern deutlich geworden – besser fragen: Wie können wir über Inhalte und Stil in politischen Debatten diskutieren? Wie können wir Menschen wieder Lösungsangebote unterbreiten, die im Moment das Gefühl haben, in der Politik der Mitte keine Antworten zu finden? Ich glaube, wir kommen mit dem Wort Brandmauer nicht weiter. Wir brauchen inhaltliche Diskussionen.
DOMRADIO.DE: Der Vorstoß des ehemaligen CDU-Generalsekretärs Peter Teuber, die Brandmauer zu lockern, hat im sächsischen Landesverband Beifall gefunden. Droht die Frage des Kurses gegenüber der AfD die Union zu zerreißen? Vielleicht gerade auch entlang der alten Ost-West-Grenzen?
Arnold: Ich hatte den Eindruck, dass der CDU-Fraktionsvorsitzende in Sachsen, genauso wie der dortige CDU-Generalsekretär das geschildert haben, was in Sachsen eben Realität ist: eine Minderheitsregierung, die in dieser Legislatur mit einem Konsultationsmechanismus Mehrheiten finden muss, weil sie in der Koalition diese Mehrheiten nicht mehr bekommt. Es ist doch interessant, dass sich die AfD dem von vornherein verweigert. Das zeigt doch, dass sie nicht bereit ist, sich auf inhaltliche Diskussionen einzulassen.
Andererseits sollten wir positiv hervorheben, dass es in Sachsen gelungen ist, in den wichtigen Entscheidungen der letzten Monate wie der Wahl des Landtagspräsidenten, der Wahl des Ministerpräsidenten und der Verabschiedung des Haushaltes ganz ohne die AfD Mehrheiten zu finden. Deswegen glaube ich, dass eine gute Politik auch in Zukunft ohne die AfD machbar ist.
Wir sollten aber nicht sofort sagen, 'Schluss, wir hören gar nicht zu'! Wir sollten notwendige Diskussionen führen und nicht aus einer vorauseilenden Angst heraus Themen gar nicht erst denken, weil eventuell ja auch die AfD sie übernehmen könnte. Mutig Diskussionen führen und Positionen vertreten, aber dann den Konsens in der Mitte der Politik suchen – das ist für mich der richtige Weg für die Zukunft.
DOMRADIO.DE: Die Deutsche Bischofskonferenz (DBK) hat die AfD wiederholt als für Christinnen und Christen nicht wählbar bezeichnet, also klar eine Brandmauer hochgehalten. Sie beraten die DBK in gesellschaftlichen und sozialen Fragen und haben in früheren Interviews gesagt, dass "wir uns hinter dieser sogenannten Brandmauer nicht verstecken dürfen, auch nicht als Kirche". Wie genau meinen Sie das?
Arnold: Es ist richtig, in der Politik klar zu benennen, wenn der Verfassungsschutz eine Partei als rechtsextrem einstuft. Genauso ist es für die Kirche richtig, aus ihrem Menschenbild heraus zu sagen, dass eine solche Partei wegen des Menschenbildes in ihrem Parteiprogramm nicht wählbar ist. Meiner Meinung nach ist es aber verkürzt, damit die Debatte zu beenden und sich zu weigern, mit AfD-Vertretern als Personen und Menschen zu reden und ihre Positionen zu diskutieren.
Der Kirche steht stattdessen gut zu Gesicht, genau zu schauen, was denn die Inhalte sind, mit denen diese Partei punktet und dann die christliche Position zu diesen Punkten zu zeigen. Die Kirchen haben doch Angebote, die sie machen können. Sie haben eine wertvolle Tradition christlicher Sozialethik. Sie haben einige Lehrstühle in Deutschland, die solche Fragen auch immer wieder reflektieren. Dort wünsche ich mir ein deutliches und auch zeitnahes Engagement, reflektiert und mit Argumenten zu den einzelnen Themen. Da geht es oft um Fragen, die nicht Monate lang hin und her gewendet werden sollten, sondern die schnelle Reaktion brauchen. Das würde ich mir noch stärker von der Kirche wünschen.
Außerdem sind wir an zwei Punkten noch gar nicht weit genug, an denen Kirche aber entscheidend in dieser Gesellschaft gefragt ist. Was die Verrohung der Sprache angeht nämlich und genauso den Umgang mit Menschen, die sich öffentlich dazu bekennen, AfD gewählt zu haben oder AfD wählen. Da wünsche ich mir von Kirche, dass sie den Gesprächsfaden aufrechterhält. Auch mit Menschen, die sich für diese Partei begeistern, die aus Sicht des Christlichen nicht wählbar ist. Da kann man Argumente widerlegen, da muss man in Diskussion gehen. Aber den Menschen als Menschen zu verurteilen, widerspricht aus meiner Sicht doch gerade dem christlichen Menschenbild.
Was wir außerdem als Kirche noch nicht zu Ende durchdacht haben, ist, wie wir mit Menschen umgehen, die sich in dieser Partei engagiert haben. Wie begegnen wir Menschen, die dort vielleicht Funktionsträger waren, für das nicht-christliche Menschenbild Stimmung gemacht haben, ihre Position auch zugespitzt und unwürdig in der Öffentlichkeit vertreten haben, sich dann aber davon abgekehrt haben und nicht mehr zur AfD gehören.
Haben wir als Kirche schon einen Modus von Reue und Vergebung gefunden, vielleicht auch eines neuen Miteinanders in Kirche und Gesellschaft, den wir dort vorleben können? Mir ist ein solcher Modus ehrlich gesagt außer von kleinen Einzelfallbeispielen in einzelnen Gemeinden nicht bekannt. Wenn die DBK eine Erklärung zum Umgang mit der AfD herausgibt, sollte sie diesen Teil mittelfristig mitdenken.
DOMRADIO.DE: Hinter der Forderung, die Brandmauer zu lockern, steckt die Hoffnung, die AfD werde sich im Alltag politischer Praxis schon selbst entzaubern. Ein Konzept, das schon bei den Nationalsozialisten in den 1930er Jahren nicht funktioniert hat. Das Konzept der Brandmauer hat die AfD allerdings bisher auch nicht klein gemacht. Hilft es da, wenn Kanzler Merz die AfD jetzt als neuen Hauptgegner ausruft?
Arnold: Da sind wir wieder bei der Sprache. Ich glaube, mit dem Begriff Hauptgegner können wir schon arbeiten. Aber wir müssen aufpassen, dass wir nicht ständig von Kämpfen oder Bekämpfen sprechen, weil wir sonst Vorstellungen von Gewalt hervorrufen, die nicht zu unserem politischen System einer Demokratie passt. Stattdessen brauchen wir den Streit mit Argumenten, davor dürfen wir nicht kuschen.
In einer Demokratie braucht es den Streit. Aber es braucht dann eben auch die Suche nach Konsens. Thomas Rachel hat als Vorsitzender des Evangelischen Arbeitskreises in der CDU schon vor zwei Jahren gesagt, dass das C die Grenzen nach rechts und links setzt, es aber innerhalb dieser Grenzen einen lebendigen Diskurs und Streit braucht. 2016 mussten wir uns schon mit der Frage beschäftigen, ob wir die AfD in den Katholikentag in Leipzig mit einbinden. Am Ende haben wir von der Katholischen Akademie gesagt: 'Auch unter dem Risiko, ihr ein Podium einzubinden, diskutieren wir mit der AfD. Aber wir setzen ihr einen christlichen Diskussionspartner mit christlicher Perspektive daneben, um wirklich in ein Streitgespräch zu kommen.'
Neun Jahre später sind wir mit der Frage 'Brandmauer ja oder nein' wieder am gleichen Punkt. Damals haben dann nicht mehr diskutiert, ob wir mit der AfD sprechen oder nicht, sondern wir haben die Fragen diskutiert, was die Menschen bewegt und woher die Angst ums Abendland kommt. Das sind inhaltliche Diskussionen, wie wir sie brauchen.
Es gibt so viele Bereiche in der Sicherheits-, Migrations-, Wirtschafts- und Außenpolitik, wo wir mit guten Argumenten inhaltlich streiten und etwas entgegensetzen können. Das bringt natürlich die Herausforderung für Kirche und für Politik, einen solchen inhaltlichen Streit auch tatsächlich einzuüben. Das sind wir vielleicht aus den letzten Jahren nicht mehr so intensiv gewöhnt gewesen, das brauchen wir wieder mehr.
DOMRADIO.DE: Die Migrationspolitik wird meist als wichtigster Grund genannt für den großen Zulauf zur AfD. Da hat die Union bereits einen deutlich härteren Kurs eingeschlagen und dafür immer wieder auch gerade aus kirchlichen Kreisen viel Kritik kassiert. In Umfragen spiegelt sich dieser harte Kurs aber nicht. Die Strategie scheint also nicht aufzugehen ...
Arnold: Na ja, wo würden wir in den Umfragen stehen, wenn die Union, wenn die die aktuelle Regierung, nicht diesen Kurs eingeschlagen hätten? Außerdem sind Umfragen am Ende noch keine Wahlergebnisse. Mein Eindruck ist schon, dass die Menschen in Deutschland Sehnsucht haben nach einer veränderten Migrations- und Sicherheitspolitik. Das mag eine Gefühlslage sein, die vielleicht in manchen Teilen gar nicht der Wirklichkeit entspricht, aber Politik hat auch die Aufgabe, Antworten darauf zu finden und Lösungsangebote zu unterbreiten, wenn Menschen sich nicht mehr sicher fühlen.
Die Kirchen haben sich in den letzten Wochen und Monaten intensiv in diese Diskussion eingebracht. Wir reden in dieser Frage jetzt oft über die CDU und die Union, vielleicht auch über die SPD, die in der Regierung sind. Ich erlebe aber auch Grüne, auch Linke, die andere Angebote machen. Auch die FDP gibt es noch. Wir haben also ein breites politisches Spektrum, das eben nicht gesichert rechtsextrem ist und verschiedene Angebote macht, auch Christen und Christinnen finden da Alternativen. Das macht unsere Demokratie doch gerade aus.
Wichtig ist mir zu sagen, dass Debatten um "CDU pur", "SPD pur" oder "Grüne pur" in die falsche Richtung führen. Wir brauchen Streit, um verschiedene Positionen klar aufzuzeigen. Aber am Ende heißt Demokratie auch Konsens. Und dann wird eben nicht mehr die reine Position einer Partei vertreten, sondern es wird immer ein Kompromiss zwischen verschiedenen Positionen sein. Davon hat unsere Bundesrepublik in den letzten knapp 80 Jahren profitiert.
Deswegen wünsche ich mir, dass wir weiter zu Kompromissen bereit sind und nicht meinen, Minderheitsregierungen seien die beste Lösung für eine Demokratie. Nein, solche Minderheitsregierungen machen am Ende den Kompromiss sehr mühsam, sehr aufwendig, sehr arbeitsintensiv und kosten viele Ressourcen für alle Beteiligten. Ich wünsche mir, dass wir weiter in der Mitte der Gesellschaft stabile Koalitionen hinbekommen.
DOMRADIO.DE: Trotz aller Diskussionen und Strategieüberlegungen scheint es immer auch ein wenig so, als starrten die CDU und die anderen Parteien auf die AfD wie das Kaninchen auf die Schlange und müssten dann hilflos mit ansehen, wie deren Umfragewerte weiter steigen. Was hilft gegen diese vermeintliche Ohnmacht?
Arnold: Nicht Angst sollte uns beherrschen, sondern Mut, der Mut zur Debatte und zu kreativen Lösungen. Wir sollten bei den Lösungsoptionen nicht an alten Wegen festhalten, sondern Mut zu Antworten haben, die vielleicht ungewöhnlich sind, aber immer auf einem christlichen Menschenbild fußen. Ein solches Menschenbild hat eben nicht nur ein Bundesland, nicht nur eine Bundesrepublik im Blick, sondern immer auch die Welt und die Auswirkungen auf diese. Es berücksichtigt die Sehnsucht nach dem Erhalt von Personalität und Solidarität und auch das wieder nicht nur auf Einzelne und meinen engsten Kreis gedacht, sondern weit gedacht.
Es geht am Ende immer auch um die Verantwortung vor der Geschichte, vor denen, die etwas geschaffen haben, aber gleichzeitig um eine Verantwortung für die nächste Generation. In den kommenden Wochen und Monaten werden wir diesen Mut zu neuen Ideen brauchen, gerade bei den Fragen der sozialen Absicherung, bei den Fragen von Generationengerechtigkeit, bei der Rente etc. Wir werden schwere Diskussionen in den kommenden Monaten führen müssen. Dabei müssen wir sehr sensibel sein, wie wir diskutieren, und welche Sprache wir finden. Aber wir sollten eben kreative, gute Lösungsansätze in der Mitte der Gesellschaft debattieren.
DOMRADIO.DE: Noch einmal mit Blick auf die Rolle der Kirchen im Umgang mit rechtsextremer Politik und rechtsextremen Parteien: Welchen Handlungsspielraum sehen Sie da noch?
Arnold: Ich habe 1989/90 erlebt, wie die Kirchen die Menschen nach der Friedlichen Revolution ermutigt haben, in der Demokratie mitzumachen. So etwas brauchen wir wieder.
Wir haben in den Gemeinden ein großes Engagement, wo Menschen sagen, dass sie keine Rechtsextremen wollen, sondern eine Regierung in der Mitte der Gesellschaft. Viele sagen dort: 'Wir brauchen Veränderungen, aber mit christlichem Menschenbild!' Und da sage ich: 'Leute, bringt euch ein! Bringt euch ein in die Parteien der Mitte!'
Und wer selbst vielleicht nicht die Kraft dazu hat oder die Zeit oder das rhetorische Geschick, kann doch andere dazu motivieren. So etwas ist richtig wertvoll, das braucht unsere Gesellschaft, das stärkt unsere Parteiendemokratie. Da würde ich mir von den Kirchen wünschen, dass sie dazu noch deutlicher zurufen.
Das Interview führte Hilde Regeniter.