Theologe Hammes sieht im Relevanzverlust der Kirche auch eine Chance

"Erlebe noch eine beeindruckende Bereitschaft zum Engagement"

Hat die Zuversicht der Menschen in die Zukunft einen Tiefpunkt erreicht? Zu diesem Ergebnis kommt zumindest der Kölner Psychologe und Rheingold-Institut-Gründer Stephan Grünewald. Was aber bedeutet das für den christlichen Glauben?

Autor/in:
Beatrice Tomasetti
Pfarrer Dr. Hammes denkt positiv. Er sieht im Bedeutungsverlust der Kirche einen heilsamen Reinigungsprozess. / © Beatrice Tomasetti (DR)
Pfarrer Dr. Hammes denkt positiv. Er sieht im Bedeutungsverlust der Kirche einen heilsamen Reinigungsprozess. / © Beatrice Tomasetti ( DR )

DOMRADIO.DE: Herr Dr. Hammes, in seinem neuen Buch "Wir Krisenakrobaten. Psychogramm einer verunsicherten Gesellschaft" konstatiert der Autor Grünewald unter anderem, dass die vollmundigen Erlösungsversprechen der Autokraten eine religiöse, spirituelle Dimension hätten und sich die Menschen heute eine Fülle von Ersatzgöttern und Ersatzreligionen mit eigenen Glaubensbekenntnissen, Erlösungs- und Heilserwartungen schaffen würden. Heilsbringer kämen zunehmend aus Bereichen, in denen es um die körperliche Selbstoptimierung, zum Beispiel mit alternativen Kontemplationstechniken etc., gehe. Welche Erfahrungen machen Sie? Wird die spirituelle Sehnsucht inzwischen zunehmend von anderen Anbietern als den Kirchen, die doch eigentlich genuin dafür zuständig wären, bedient? 

Pfarrer Dr. Axel Hammes (Subsidiar in Bensberg/Moitzfeld und Geistlicher Berater der Thomas-Morus-Akademie): Der christliche Glaube träufelt einer Gesellschaft keine rein innerweltliche Zuversicht ein. Das müssen wir schon den Gesundbetern aller religiösen und säkularen Couleur überlassen. Aber in unserem Bemühen um Anschlussfähigkeit an den Diskurs der Zeit hat der Horizont unserer Hoffnung an Kontur verloren. 

Dr. Axel Hammes ist Subsidiar in Bensberg-Moitzfeld und Geistlicher Berater der Thomas-Morus-Akademie. / © Beatrice Tomasetti (DR)
Dr. Axel Hammes ist Subsidiar in Bensberg-Moitzfeld und Geistlicher Berater der Thomas-Morus-Akademie. / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Vor kurzem hat der Philosoph Jürgen Habermas meines Erachtens zu Recht vor einer Einebnung unserer Erlösungshoffnung ins allgemein Menschliche gewarnt. Gerade der biblische Glaube lebt vom Geist der Unterscheidung: zwischen Gott und den Götzen, zwischen den Erwartungen dieser Welt und dem Kommen von Gottes Reich. Das stellt unser endliches Leben in die Weite Gottes. Tatsache aber ist eben auch, dass dieser Druck zur permanenten Selbstoptimierung heute weit verbreitet ist und dahinter ein Menschenbild steht, demzufolge sich jeder komplett selbst entwirft, aber dann auch sich selbst überlassen bleibt.

Meine persönlichen Erfahrungen formen da ein anderes, aber natürlich auch ziemlich einseitiges Bild, weil ich als Priester überwiegend näher mit Menschen zusammenkomme, die etwas von der Kirche erwarten. Dabei fällt mir aber auf, wie sehr sie auf Glaubwürdigkeit achten und ein feines Gespür dafür haben, ob sie ihrem Gegenüber auch etwas abkaufen können. Nur dann lassen sie sich auf ein Angebot ein, aber dann kann ich eben auch spirituelle Fragen in ihnen wecken. In den Container "spirituelle Sehnsucht" passt natürlich unglaublich viel hinein. Wir müssen auch nicht zuerst danach fragen, was wir denn alles bedienen können, aber der Spiritualität, die uns selbst trägt, mehr Raum geben: etwa die Weite und Tiefe eines Kirchenraumes zum Leuchten und zum Klingen bringen.

DOMRADIO.DE: Ist die Botschaft Jesu Christi trotz der vielen "Verführungen" aus allen möglichen Richtungen nicht nach wie vor absolut konkurrenzlos? 

Hammes: Davon bin ich zutiefst überzeugt, weil ich nicht nur eine Doktrin von Christus propagiere, sondern versuche, ihn, der sein ganzes Leben mit mir teilt, zu bezeugen. Darum veranstalte ich aber auch kein Wettrennen mit der religiösen "Konkurrenz", sondern fange jeden Tag neu damit an, das zu leben, was ich vom Evangelium verstanden habe, indem ich meinen kleinen Weg mit ihm und zu ihm gehe.

DOMRADIO.DE: Inzwischen wird der Bedeutungsverlust der Kirchen immer offensichtlicher beklagt – und das nicht nur von außen. Auch wenn gerne nochmals zwischen der Institution und der religiösen Praxis differenziert wird – nach dem Motto "Auch wenn ich aus der Kirche ausgetreten bin, glaube ich trotzdem noch" – ist nicht abzustreiten, dass die Relevanz einer Zukunftshoffnung, die an die christliche Heilserwartung gekoppelt ist, deutlich nachlässt. Lässt sich diese Tendenz absehbar noch aufhalten? Und wenn ja, wie?

Axel Hammes

"Die Kirche darf sich nicht zum Selbstzweck überhöhen. Dann nimmt ihr Auftrag, Sakrament der Nähe Gottes zu sein, Schaden; dann deckt sie das Geheimnis zu, aus dem allein sie leben kann."

Hammes: Als Priester vertrete ich selbstverständlich immer auch die Institution, zu der ich gehöre. Fakt ist, dass sich die großen Institutionen aktuell fast alle in einer massiven Krise befinden. Dennoch erkenne ich in diesem Relevanzverlust für die Kirche auch eine heilsame Reinigung: Mehr Gott, weniger Kirche! Denn die Kirche darf sich nicht zum Selbstzweck überhöhen. 

Dann nimmt ihr Auftrag, Sakrament der Nähe Gottes zu sein, Schaden; dann deckt sie das Geheimnis zu, aus dem allein sie leben kann. Manchmal kommt Gott mit keinem Wort mehr bei uns vor. Ist das nicht mindestens genauso schlimm, wie den ewigen Gott für die eigenen Zwecke zu instrumentalisieren? Ich will keineswegs pauschalisieren: Aber haben sich nicht manche, die aus der Kirchensteuergemeinschaft ausgetreten sind, ein feines Gespür genau dafür bewahrt?

Immer sonntags um 8 Uhr feiert Pfarrer Hammes Gottesdienst in der Bensberger Edith Stein-Kapelle. / © Beatrice Tomasetti (DR)
Immer sonntags um 8 Uhr feiert Pfarrer Hammes Gottesdienst in der Bensberger Edith Stein-Kapelle. / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Im Rückblick auf meine ersten Jahre als Priester frage ich mich zunehmend, ob ich mich damals nicht zu sehr in den Wunsch verkrampft hatte, wenigstens an meinem Platz den großen säkularen Trend aufhalten zu wollen. Vielleicht wollte ich auch nur ein Stück der religiösen Heimat retten, die mich selbst getragen hat. 

Doch heute glaube ich, dass wir die Wüste bestehen müssen, deren Ende wir noch nicht erkennen können; und bestehen werden wir nur, indem wir das wirklich Lebensnotwendige auf der Wüstenwanderung wieder richtig zu schätzen lernen: das Evangelium, die Sakramente und in allem und über allem die Liebe Gottes. Bei unseren französischen Nachbarn sehe ich in einer Kirche mit langer Tradition, die zugleich viel ärmer und schlichter als wir den Glauben lebt, zarte Sprösslinge eines neuen Aufbruchs. In unserem Land hat die Kirche noch einen weiten Weg vor sich, um von diesem Beispiel lernen zu können.

DOMRADIO.DE: Zu den manifesten Beobachtungen, die Religionssoziologen oder Psychologen mit ihrem scheint’s objektiven Blick anstellen, kommt erschwerend noch hinzu, dass das Leben in den Gemeinden gerade durch den Transformationsprozess vielerorts erodiert, viele haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter damit ausgelastet sind, die Strukturen für große pastorale Einheiten zu schaffen und damit nicht mehr genug Ressourcen für die Auseinandersetzung mit dem Eigentlichen, nämlich Glaubensthemen oder -fragen, bleiben. Was bleibt wesentlich, damit die Fahnenstangen eines gelebten und lebendigen Glaubens in einer Gemeinde nicht mehr nur von einer schwindend kleinen Minderheit hochgehalten werden?

Axel Hammes

"Am Ende könnte es uns so ergehen wie einst beim Turmbau zu Babel: Wir bauen immer höher und komplexer, aber vergessen dabei die Menschen, die in unseren Konstruktionen wohnen sollen."

Hammes: Allein schon diese Feststellung verdient deutlichen Widerspruch. Strukturen sollen dem Leben der Kirche dienen, und nicht umgekehrt hat das Engagement von Laien und Hauptamtlichen die Strukturen zu bedienen. Genau das droht bei uns derzeit zu kippen. Unsere Kalender und Köpfe sind besetzt von Organigrammen und Zahlen. Synergie und Effizienz werden als neue Zauberworte gehandelt. 

Die propagierte Professionalisierung folgt vor allem einem ökonomischen Denken, als sei ein Bistum wie ein Konzern zu führen. Am Ende könnte es uns so ergehen wie einst beim Turmbau zu Babel: Wir bauen immer höher und komplexer, aber vergessen dabei die Menschen, die in unseren Konstruktionen wohnen sollen. Dann wird es keinen Bestand haben.

Auch mir ist bewusst, dass wir uns Veränderungen stellen müssen, die schon seit langem in Gang gekommen sind. Die schwindenden materiellen und personellen Ressourcen werden ja immer unübersehbarer. Aber Geld und Geist können auch in eine unselige Konkurrenz treten, weil etwa zum Wesen des Geldes gehört, dass man davon eigentlich immer zu wenig hat. Das Geld haucht uns den Geist des maximalen Profits ein. 

So entnehme ich mancher Vision von der Kirche der Zukunft zwar, wie sie selbst gerne gesehen werden möchte. Was aber zu kurz kommt: Von wem und was lässt sie sich in Anspruch nehmen? Wofür will sie entschieden stehen? Wofür brennt sie? Für solche Herzkammern unseres Glaubens kann kein Preis zu hoch sein. Mit dem Bildungscampus in Köln-Kalk etwa hat unser Erzbistum so ein kraftvolles Zeichen gesetzt. Zumindest steckt darin viel Potential.

Axel Hammes

"Eine Kirche, die den Prozess der eigenen Bekehrung auf allen ihren Ebenen überspringt, braucht mit Neuevangelisierung erst gar nicht zu beginnen."

Mit anderen Worten, die "Fahnenstangen unseres Glaubens" lassen sich nur beschriften mit der wetterfesten Tinte unseres gottgesättigten Herzbluts. Ich erlebe vor Ort durchaus noch eine beeindruckende Bereitschaft zum Engagement. Aber das Fundament dafür erodiert schon seit geraumer Zeit. Eine Kirche, die den Prozess der eigenen Bekehrung auf allen ihren Ebenen überspringt, braucht mit Neuevangelisierung erst gar nicht zu beginnen.

DOMRADIO.DE: Ecclesia semper reformanda – die Kirche ist immer zu reformieren. Dieser Satz des Heiligen Augustinus, der Ruf nach Veränderung, zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Kirche. Wie viel Reformbereitschaft könnte der Kirche zuträglich sein, ohne sie in ihren Grundfesten zu erschüttern, und wo müsste sie beginnen, damit der christliche Glaube wieder an Attraktion gewinnt und als relevanter Player bei der Vielfalt an Sinnangeboten, zumal er doch ein "Leben in Fülle" verspricht, wahrgenommen wird? 

Hammes: Natürlich werden wir von vielen Zeitgenossen bestenfalls noch als ein größerer Anbieter auf dem Markt des Religiösen wahrgenommen. Aber das Motiv für ihre Reformbedürftigkeit findet die Kirche nicht in gesteigerter Attraktivität – dann würde sie ihre Überzeugungen vom aktuellen "Marktwert" abhängig machen. Der Grund für Reformen liegt im Anspruch des Evangeliums, "Licht der Welt zu sein", wie es im Matthäus-Evangelium heißt. In der Bergpredigt gibt Jesus auch klar zu verstehen, wozu es dienen soll: die Menschen mit Gott bekannt zu machen. Wir reformieren uns, um in Glaube, Hoffnung und Liebe zu wachsen – nicht als Teil einer optimierten Marketing-Strategie.

Für den Transformationsprozess, in dem wir stehen, habe ich freilich einen dringenden Wunsch: dass dem Volk Gottes vor Ort genug Eigenverantwortung zugetraut wird. Die harten Fakten muten uns ja schon genug zu. Daher sollte unsere ganze Leidenschaft den Spielräumen gelten, die vor Ort bleiben und mit den vielen vorhandenen Charismen in den Gemeinden gestaltet werden können. Stellen wir die Menschen nicht allein vor vollendete Tatsachen! 

Vor kurzem schnappte ich ein Wort vom Heiligen Johannes XXII. auf: "Die Laien gehören nicht nur zur Kirche, sie sind die Kirche". Haben wir doch den Mut, diese Wahrheit in ihrer ganzen Tragweite auszuschöpfen!

Das Interview führte Beatrice Tomasetti.

Quelle:
DR

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