DOMRADIO.DE: Die Bundesregierung hat einen "Herbst der Reformen" angekündigt. Ein großes Thema dabei ist der Sozialstaat. Was ist zu erwarten?
Alexander Riedel (Hauptstadtkorrespondent der Katholischen Nachrichtenagentur / KNA): Nun, CDU/CSU und SPD sind sich zunächst einmal darin einig, dass der Sozialstaat reformbedürftig ist. Diese Einschätzung teilen auch Grüne und Linke aus der Opposition. Wenn man allerdings schaut, was die Parteien jeweils unter Reformen verstehen, zeigen sich schnell durchaus große Unterschiede.
Auch bei den beiden Regierungspartnern Union und SPD ist das in den vergangenen Wochen schon deutlich geworden. Während die Union den Eindruck erweckte, im Sozialbereich vor allem kürzen zu wollen – zuletzt mit der Forderung nach einer "Agenda 2030" – lehnte die SPD harte Einschnitte weitgehend ab.
DOMRADIO.DE: Das klingt nicht so, als ob große Reformen zu erwarten wären.
Riedel: Tja, da wird es auf beiden Seiten auf die Kompromissfähigkeit ankommen. Im Koalitionsausschuss haben CDU/CSU und SPD vergangene Woche bereits über die Reform des Bürgergeldes gesprochen. Diese sollen bis Ende des Jahres kommen. Das Bürgergeld soll zu einer "Neuen Grundsicherung" werden.
Die öffentliche Debatte um das Bürgergeld dreht sich ja meist um Sanktionen gegen Menschen, die Arbeitsangebote verweigern oder Termine beim Jobcenter nicht wahrnehmen. Allerdings machen gerade die oft erwähnten Totalverweigerer unter den Bürgergeld-Beziehern nur einen verschwindend geringen Anteil aus. Und auch das Bürgergeld selbst ist ja nur ein Teil des Sozialstaats. Daher ist mit dieser Reform allein wohl nicht der ganz große Wurf zu erwarten.
DOMRADIO.DE: Welche Sozialreformen plant die Regierung noch?
Riedel: In der vergangenen Woche hat eine Kommission ihre Arbeit aufgenommen, die sich damit beschäftigen soll, wie im Sozialbereich in den Behörden Abläufe beschleunigt werden können. Außerdem soll die Kommission schauen, welche Sozialleistungen sich zusammenlegen lassen.
Ein weiterer Aspekt ist, dass Anträge auf Leistungen künftig digital gestellt und bearbeitet werden sollen. Im Blick sind dabei vor allem steuerfinanzierte Leistungen wie zum Beispiel Wohngeld, Kinderzuschlag oder das Bürgergeld. Die Kommission soll bis Ende des Jahres Vorschläge vorlegen, die die Regierung dann ab dem kommenden Jahr umsetzen will.
DOMRADIO.DE: Das hört sich jetzt aber auch noch nicht nach dem großen Wurf für den "Herbst der Reformen" an. Kommt da noch mehr?
Riedel: Zum Sozialstaat zählen nicht nur die steuerfinanzierten Leistungen wie das Bürgergeld. Der weitaus größere Bereich sind die Sozialversicherungen, also Krankenversicherung, Pflegeversicherung und Rentenversicherung. Da ist auch der Reformbedarf weitaus größer – das ist auch parteiübergreifend Konsens.
Für eine Pflegereform zum Beispiel gibt es auch schon eine Arbeitsgruppe von Bund und Ländern, die bis Ende des Jahres Vorschläge vorlegen soll. Bei der Rente drehen Union und SPD zunächst kleinere Schrauben – Aktivrente, Frühstartrente, Mütterrente, Sicherung des Rentenniveaus. Eine Rentenkommission soll dann bis zur Mitte der Wahlperiode Vorschläge für eine größere Reform erarbeiten.
Und als ob das noch nicht genug Kommissionen wären, soll es auch noch eine für die gesetzliche Krankenversicherung geben.
DOMRADIO.DE: Also reden wir nicht nur über einen "Herbst der Reformen", sondern eigentlich über Jahre der Reformen?
Riedel: Ja, das kann man so sagen. All das zusammengenommen könnte eine Regierung wohl auch kaum in einem Herbst stemmen. Zumal es ja noch die ganzen anderen drängenden Fragen gibt – Wirtschaft, Sicherheit, Klima, und so weiter.
Die Aufgaben im Sozialbereich sind allerdings genauso gewaltig. Pflege, Gesundheit, Rente – überall steigen die Kosten deutlich, auch wegen unserer alternden Gesellschaft. Das ist aber auch schon seit vielen Jahren klar. Ob nun diese Bundesregierung für grundlegende Lösungen sorgen wird, bleibt abzuwarten.
DOMRADIO.DE: Was sagen Sozialverbände zu dieser ganzen Gemengelage?
Riedel: Der Sozialverband VdK etwa fordert eine stärkere Beteiligung Vermögender an der Finanzierung des Sozialstaats. Und Caritas-Präsidentin Eva Welskop-Deffaa warnt vor einer starken Beschneidung des Sozialstaats. Sie sagte, dass der "Herbst der Reformen" kein "Herbst der sozialen Ängste und des Sozialneids" werden dürfe.
Uns bei der Katholischen Nachrichten-Agentur hat sie gerade gesagt, dass sie bei der Besteuerung großer Erbschaften Gerechtigkeitsfragen sieht, weil immer mehr Vermögen vererbt oder innerhalb von Familien verschenkt wird. Die Debatte über eine faire steuerliche Belastung solle aber so geführt werden, dass die Solidarbereitschaft gestärkt werde, so die Caritas-Chefin. Das heißt, Steuern sollten als positiver Beitrag zum Gemeinwesen angesehen werden.
Das Interview führte Tobias Fricke.