Sozialethischer Corona-Kompass für schwierige Fragen

Wenn die menschliche Vernunft an Grenzen stößt

Die Corona-Krise setzte durch besonders dramatische Situationen eine neue Wertedebatte in Gang: Triage, Sozialkultur oder Begrenzung von Grundrechten. Kann ein Sozialethischer Corona-Kompass bei schwierigen Fragen Orientierung geben?

Sozialethischer Corona-Kompass für schwierige Fragen / © ByGurzoglu (shutterstock)
Sozialethischer Corona-Kompass für schwierige Fragen / © ByGurzoglu ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: Sie sind Leiter des Ethikinstituts der Wilhelm Löhe Hochschule Fürth und haben diesen Sozialethischen Corona-Kompass geschrieben. Im Verlauf dieser Coronavirus-Pandemie haben Ärzte und Politikerinnen schwierige Entscheidungen treffen müssen. Eine Dilemmasituation für Ärzte ist die Triage, also darüber zu entscheiden, wer behandelt wird und wer nicht. Politiker mussten Grundrechte einschränken, um die Infektionsketten zu durchbrechen. Mit welchen dieser Dilemmasituationen haben Sie sich für diesen Kompass besonders befasst?

Prof. Elmar Nass (Theologieprofessor): Die Situation und die Bilder aus Italien haben uns ja alle gerührt. Auch die Särge, die wir vor den Krankenhäusern gesehen haben. Dann kam diese Regelung, die von Verbänden empfohlen wurde, dass Menschenleben zugunsten von Lebensjahren geopfert wurden, so die Logik. Das heißt, man hat ältere Menschen nicht behandelt und sie im Grunde zugunsten Jüngerer geopfert. Das war ein ganz drängendes Problem, das in dem Kompass auch behandelt wird.

Ich hoffe, dass uns eine solche Situation in Deutschland auch in Zukunft erspart bleibt. Aber man weiß natürlich nicht, wie sich die Pandemie weiterentwickelt. Der Konflikt zwischen der jüngeren und der älteren Generation kommt auch in diesem Konflikt zum Tragen. Es heißt, die Alten sind diejenigen, auf die man Rücksicht nehmen muss. Dafür wird die Wirtschaft runtergefahren und darunter leidet die Jugend jetzt und vielleicht in der Zukunft noch mehr. Jetzt werden viele Schulden aufgenommen. Die Zeche dafür müssen die jungen Menschen später bezahlen. Das ist ein großes Problem. Grundrechte wie Versammlungs-, Religions- und Bewegungsfreiheit werden dafür eingeschränkt.

DOMRADIO.DE: Bleiben wir bei dem sozialen Zusammenhalt, der in den Vordergrund gestellt wird. Man kann grob zwei Pole festmachen: Zum einen, dass die Jungen sagen, auch wir müssen Hygiene- und Abstandsregeln einhalten, um die Krankheit einzudämmen, die gerade für ältere und vorgeschädigte Personen so schwierig ist. Zum anderen die Position: Man kann doch die Senioren einsperren, sodass die Jungen und Gesunden nicht auf alles verzichten müssen. Was steht zu diesen Einstellungen in Ihrem Ethikkompass, der aus christlicher Sicht versucht, das Ganze einzuordnen?

Nass: Im Kompass - und das ist ganz zentral - geht es darum, immer vom Menschenbild her zu argumentieren und darauf zu schauen, aus welchem Menschenbild heraus werden welche politischen Konsequenzen gezogen. In dem Fall ist es so, dass nach unserem Grundgesetz und erst recht nach der christlichen Vorstellung die Würde jedes Menschen unantastbar ist. Das ist hochsensibel und gefährlich, wenn man die Einschränkung von Grundrechten quasi diskriminierend durchführt.

Dass hochgradig gefährdete Menschen isoliert werden, ist klar. Aber dass man generell sagt, bis zu einem bestimmten Alter sollen die Menschen eingesperrt sein, das halte ich für sehr problematisch. Dann kommen wir auch zu einer Zweiklassengesellschaft. Das wird eher dazu führen, dass man sich gegenseitig die Schuld zuweist, mit dem Finger auf die Alten zeigt, und dass die alten Menschen sich diskriminiert fühlen.

Gerade die Älteren brauchen ja soziale Kontakte. Die Vereinsamung in unserer Gesellschaft ist ein sehr großes Problem, vor allem von älteren Menschen. Ihnen diese Einsamkeit jetzt quasi weiter zu oktroyieren, halte ich vom Menschenbild her für hochgefährlich, aber auch von den psychologischen, medizinischen und ökonomischen Folgen.

DOMRADIO.DE: Das sind also auch Argumente, die man nutzen kann gegenüber denen, die sagen: "Ach, das geht mich doch nichts an..."

Nass: "Das geht mich nichts an", ist eine solch egoistische Haltung, die wir in vielen Bereichen haben. Auch am Anfang der Pandemie haben wir das leider erlebt, als es noch Corona-Partys gab und Filialleiter in Geschäften bespuckt wurden. Diese Pandemie geht uns alle an. Wir sitzen alle in einem Boot.

Es kommt gerade darauf an, daraus zu lernen, dass wir uns in Zukunft in der Gesellschaft nicht spalten lassen zwischen denjenigen, die angeblich alles schuld sind, und denjenigen, die jetzt die Zeche bezahlen müssen. Eine solche Spaltung ist hochgefährlich, gefährdet den sozialen Frieden und führt am Ende zu einer Sündenbock-Diskussion, die wir in unserer Gesellschaft nicht wollen.

DOMRADIO.DE: Wir haben auch Abgrenzungstendenzen nicht nur gegenüber bestimmten Bevölkerungsgruppen erlebt, sondern auch zum Beispiel die Grenzschließungen. Was steht zum Thema internationale Hilfe in Ihrem Positionspapier?

Nass: In puncto internationale Hilfe wird zum einen schwerpunktmäßig auf Europa geschaut. Die europäische Idee ist ein hohes Ideal. Die Grenzen sind an vielen Stellen geschlossen worden. Eine Frage, die im Kompass behandelt wird, ist: Wie steht es mit unserer Solidarität gegenüber anderen Ländern, die jetzt noch mehr betroffen sind als wir, wie etwa Italien oder Spanien? Das ist das eine.

Wir haben Patienten aus diesen Ländern in unseren Kliniken zum Glück aufgenommen. Ich würde aber sagen, vielleicht etwas zu spät und vielleicht auch etwas zu wenig. Daraus sollte man für die Zukunft noch mehr lernen.

Zum zweiten die Frage nach der internationalen Hilfe in der Zukunft: Schauen Sie mal in die Slums, die Favelas. Da fängt die Katastrophe jetzt erst an. Da müssen wir helfen. In dem Positionspaper gibt es ein Plädoyer dafür, dass man nicht nur auf korrupte Regierungen setzt, die das Geld in die eigene Tasche stecken, sondern dass man in einer Art konzertierten Aktion von uns aus gezielt Nichtregierungsorganisationen oder auch kirchliche Orden unterstützt, auf die man sich verlassen kann und die menschliche, verlässliche Arbeit vor Ort machen. Diese Organisationen sollten wir unterstützen, damit sie vor Ort für Hygiene sorgen, in Krankenhäusern und in Pflegeeinrichtungen den Menschen helfen, um das Schlimmste zu verhindern.

DOMRADIO.DE: Gibt es ein Fazit, wo der Glaube in alledem hilft?

Nass: Zum einen ist es so, dass die große Frage bleibt: Wie viel zusätzliches Lebensrisiko wollen wir in Kauf nehmen? Wann werden die Freiheiten wiedergegeben und wann nicht? Darauf gibt es keine einfache Antwort. Wir lernen aus dieser Situation, auch aus diesen Dilemmasituationen, die menschliche Vernunft stößt an Grenzen.

Die Ärzte und Politiker in Italien oder - wenn es soweit gekommen wäre wie in Italien - auch bei uns, müssen Entscheidungen treffen, die immer irgendwelche schlechten Konsequenzen haben. Die menschliche Ratio hilft nicht. In solchen Situtaionen, glaube ich, ist der christliche Glaube eine sehr wichtige Stütze.

Der glaubende Mensch weiß, in solchen Grenzsituationen, in denen man alles getan und alles abgewogen hat, kann man im Zweifel diese schwere Dilemma-Entscheidung auch im Gebet in die Hand Gottes legen und muss nicht daran verzweifeln, auch dann, wenn aufgrund eigener Entscheidungen vielleicht Menschen sterben.

Aber wenn man alles getan hat und es keine andere Möglichkeit gibt, dann muss man in solchen Entscheidungen nicht daran verzweifeln, sondern darf darauf hoffen, dass der Geist Gottes einem in solchen Situationen hilft - den Ärzten, den Pflegekräften und auch den Politikern.

Das Interview führte Uta Vorbrodt.


Prof. Elmar Nass / © privat
Prof. Elmar Nass / © privat
Quelle:
DR
Mehr zum Thema