Theologe Schockenhoff zu Abwägungen von Grundrechten

"Leben nicht gegeneinander aufrechnen"

Im Kampf gegen Corona sind Grundrechte massiv eingeschränkt. Zu Recht? Der Freiburger Moraltheologe Eberhard Schockenhoff beschreibt im Interview, warum es keine allgemeingültige Hierarchie der Werte gibt.

Theologe Schockenhoff: "Leben nicht gegeneinander aufrechnen" / © vetre (shutterstock)
Theologe Schockenhoff: "Leben nicht gegeneinander aufrechnen" / © vetre ( shutterstock )

KNA: Herr Professor Schockenhoff, hat Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble Recht, wenn er mahnt, im Kampf gegen Corona nicht alle Grundrechte dem Schutz des Lebens unterzuordnen?

Prof. Eberhard Schockenhoff (Freiburger Moraltheologe): Er hat Recht mit seiner Aussage, wonach das Leben keinen absoluten Höchstwert darstellt. Das entspricht auch der christlichen Ethik. Zugleich ist das Leben unter allen Gütern das schlechthin fundamentale, weil es ja erst die Voraussetzung dafür ist, andere Rechte wahrnehmen zu können. Diese besondere Stellung wird auch im Grundgesetz deutlich. Denn unsere Verfassung beschreibt die Menschenwürde als Höchstwert. Und unabdingbare Voraussetzung der Menschenwürde ist das Leben.

KNA: Aber dennoch kann es eine Abwägung zwischen dem Recht auf Leben und anderen Rechtsgütern geben?

Schockenhoff: Ja, aber dabei sind zwei Aspekte des Lebensrechtes zu unterscheiden: ein defensiv-abwehrender und ein unterstützend-helfender. Das bedeutet: Jeder Mensch hat das Recht, nicht getötet zu werden. Aber sein Anspruch auf positive Unterstützung ist nicht unbegrenzt. Dieser Anspruch muss vielmehr gegen andere, berechtigte Interessen abgewogen werden.

KNA: Aber nach welchen Kriterien ist dies möglich? Könnte man von einer allgemeingültigen Hierarchie der Grundrechte sprechen?

Schockenhoff: Nein, eine solche Hierarchie kennt eine plurale Gesellschaft nicht, weil dort jeder eine andere Vorstellung davon haben kann, was für sie oder ihn im Leben wichtig oder das Wichtigste ist.

KNA: Dennoch setzt das Grundgesetz die Würde des Menschen als unantastbar fest?

Schockenhoff: Die Menschenwürde ist das oberste Achtungsgebot unserer Verfassung. Das Leben dagegen ist die vitale Basis der Würde. Denn das Recht auf Leben ist ein 'Alles-oder-Nichts-Recht'. Das Recht auf Leben kann man eben nicht teilweise einschränken, ohne seine Substanz anzugreifen.

KNA: Also ist in der aktuellen Corona-Bekämpfung das Recht auf Leben doch stärker und wichtiger als alles andere?

Schockenhoff: Die aktuellen Einschränkungen haben das Ziel der Abwehr von Gefahren für Gesundheit und Leben. Aber dabei geht es nicht um das konkrete Leben eines Individuums, sondern wir überlegen abstrakt, welche Möglichkeiten gibt es, um Situationen der Gesundheitsgefährdung der Bürger zu minimieren. Und dabei stellt sich sehr wohl immer die Frage der Verhältnismäßigkeit. Der Schutz des Lebens kann die Einschränkungen anderer Freiheitsrechte rechtfertigen. Aber das muss immer genau begründet und abgewogen werden.

KNA: Und daran entzünden sich dann die Debatten?

Schockenhoff: Ja, denn die Politik steht zweifellos gerade vor schwierigen Entscheidungen. Beispielsweise muss ja auch ins Gesamtkalkül einfließen, dass die als Schutz beabsichtigten Maßnahmen mittelbar negative Folgen haben und damit selbst wieder Leben gefährden können. Beispielsweise wenn eine Familie jetzt auf engem Raum dicht gedrängt zusammen leben muss und es dadurch zu Gewalt oder Missbrauch kommt. Oder wenn durch die Kontaktverbote depressive Menschen zu Suizidgedanken kommen.

KNA: Wie erleben Sie die aktuelle Debatte um diese Abwägung von Gesundheitsschutz und anderen Grundrechten? Gelingt die rechte Balance?

Schockenhoff: Eine Verständigung über das richtige Tempo und Maß der Lockerungen fällt schwer. Es bleibt der Politik nichts anderes übrig, als in kleinen Schritten zu agieren und möglicherweise auch wieder einen Schritt zurück zu gehen. Das braucht aber auch eine reife, demokratische Öffentlichkeit, die bereit ist, solche tastenden Versuche der Politik mitzutragen. Andererseits wollen sich Politiker wie Spahn oder Söder natürlich gerne als handlungsstark inszenieren. Aber das ist derzeit sicher nicht der richtige Weg.

KNA: Sie haben beschrieben, dass es trotz der herausgehobenen Stellung des Lebensschutzes auch Abwägungen und Einschränkungen geben muss. Was folgt daraus beispielsweise für die kirchliche Positionen zum Schwangerschaftsabbruch, den die katholische Kirche kategorisch ablehnt?

Schockenhoff: Da sehe ich keinen direkten Zusammenhang zur aktuellen Debatte. Es geht beim Schwangerschaftsabbruch um andere Fragen. Es geht um das Ethos der Folgenverantwortung. Also darum, dass ich für die Folgen meines Verhaltens Verantwortung trage. Und weil hier die ganze, noch ungelebte Existenz des Kindes auf dem Spiel steht, ist es christliche Überzeugung, dieses Lebensrecht höher zu setzen als die Einschränkungen, die sich für die Mutter ergeben, wenn man ihr zumutet, das Kind anzunehmen.

KNA: Wie bewerten Sie die jüngsten Äußerungen von Boris Palmer? "Wir retten Menschen, die vielleicht ohnehin bald sterben?"

Schockenhoff: Das ist zynisch und menschenverachtend.

KNA: In Politik und Verfassungsrecht wurde auch diskutiert, ob die Anzahl der bedrohten Leben gegeneinander aufgerechnet werden darf. Etwa bei der Frage, ob ein entführtes Passagierflugzeug abgeschossen werden darf, um zu verhindern, dass bei einem gezielten Absturz noch mehr Menschen getötet werden.

Schockenhoff: Die christliche Ethik ist hier eindeutig - und auch das Bundesverfassungsgericht hat das klargestellt: Es ist unzulässig, Leben gegeneinander aufzurechnen. Jeder Mensch hat einen einmaligen Wert. Aber auch hier würde ich keinen direkten Vergleich zur aktuellen Corona-Lage ziehen. Es geht aktuell ja gerade nicht um ein gegenseitige Aufrechnung von Leben; sondern die Schutzmaßnahmen müssen so gestaltet sein, dass sie ihr Ziel des Lebensschutzes tatsächlich erreichen.

Das Interview führte Volker Hasenauer.


Eberhard Schockenhoff / © Harald Oppitz (KNA)
Eberhard Schockenhoff / © Harald Oppitz ( KNA )
Quelle:
KNA