Rechtsexperte: Antidiskriminierung gilt auch bei Triage

"Das ist ein Akt der Tötung"

Welche Kriterien gelten bei der Vergabe lebenswichtiger Beatmungsgeräte, wenn zu wenig vorhanden sind? Eine Typisierung etwa nach Alter oder Behinderung verbietet die Verfassung, betont der Kölner Jurist Wolfram Höfling im Interview.

Covid-19-Patienten in einem Krankenhaus in Bergamo, Italien / © Claudio Furlan (dpa)
Covid-19-Patienten in einem Krankenhaus in Bergamo, Italien / © Claudio Furlan ( dpa )

KNA: Herr Professor Höfling, der Deutsche Ethikrat hat sich vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie zur Triage geäußert. Dabei geht es vor allem um die Frage, nach welchen Kriterien Gesundheitsleistungen, wie etwa Beatmungsgeräte, zugeteilt werden, wenn nicht mehr genügend für alle Patienten vorhanden sind. Was sagt die Verfassung hierzu?

Wolfram Höfling (Juraprofessor, Verfassungsrechtler und Mitverfasser der Stellungnahme des Deutschen Ethikrates zum Umgang mit der Coronapandemie): Die Verfassung verlangt eine elementare Basisgleichheit bei der Zuteilung. Sie verbietet etwa, am sozialen Status oder am Alter als solchem anzusetzen. Auch die spezifischen Diskriminierungsverbote - etwa zu Geschlecht oder Abstammung - untersagen derartige Unterscheidungen. In Frankreich wurde zeitweise allein nach einem formalen Alterskriterium entschieden, in den USA sollen in einigen Bundesstaaten Mukoviszidose-Kranke ausgeschlossen werden, weil ihre Überlebenschancen geringer seien. Dies ist für uns nicht denkbar.

KNA: Der Bonner Verfassungsrechtler Christian Hillgruber, aber auch Abgeordnete sehen gerade bei diesen Fragen von Leben und Tod in Deutschland den Gesetzgeber gefragt.

Höfling: Auch ich bin der Überzeugung, dass alle wichtigen Fragen, die Grundrechte betreffen - zumal Fragen um Leben und Tod - grundsätzlich durch den Gesetzgeber gesteuert werden müssen. Das hat auch das Bundesverfassungsgericht stets betont. Bei der Triage nimmt die juristische Diskussion nun an Fahrt auf. Wir im Ethikrat bezweifeln aber, dass der Gesetzgeber für den Notstandsfall überhaupt positive Kriterien vorgeben könnte.

KNA: Wieso?

Höfling: Weil es sich hier per definitionem um eine Katastrophensituation handelt, die weder moralisch noch juristisch befriedigend gelöst werden kann und sich einer gesetzgeberischen Allgemeinsteuerung entzieht. Der Gesetzgeber könnte sich allein darauf beschränken, ein bestimmtes Vorgehen zu untersagen. Ansonsten würde er unweigerlich menschliches Leben bewerten, was der Menschenwürde widerspricht.

KNA: Der Ethikrat verweist auf die medizinischen Fachgesellschaften. Werden damit aber nicht ethische Grundentscheidungen, über die eigentlich das Parlament zu entscheiden hätte, an Dritte delegiert?

Höfling: Nein, denn die notwendigen Vorgaben ergeben sich bereits aus der Verfassung selbst, durch die Menschenwürdegarantie oder die Diskriminierungsverbote, über die sich auch Fachgesellschaften nicht hinwegsetzen können. Deshalb glaube ich, dass wir für die Corona-Krise keine eigenen Gesetze zur Triage brauchen.

KNA: Welche Rolle haben dann Fachgesellschaften wie die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI)?

Höfling: Im Gegensatz zu Ärztekammern haben medizinische Fachgesellschaften keine Rechtsetzungskompetenz. Sie wollen durch medizinisch und ethisch begründete Kriterien und Verfahrensweisen den Verantwortlichen eine reflektierte Entscheidungsunterstützung anbieten. Damit können sie auch verhindern, dass der Arzt in der einzelnen Situation willkürlich entscheidet. Aus staatlicher Sicht sind die Regeln aber nicht rechtsverbindlich. Der Ethikrat hat ihnen also keinen Freibrief erteilt, nach dem Motto: Der Gesetzgeber zieht sich zurück, also wird das der professionellen Selbstregulierung überlassen. Die Verantwortung bleibt beim einzelnen Arzt.

KNA: Die DIVI hat ihre Empfehlungen inzwischen überarbeitet, nachdem die erste Fassung auf massive Kritik unter anderem von Behindertenverbänden gestoßen war. Bemängelt wurde etwa, dass das Kriterium der Gebrechlichkeit Menschen mit Behinderung diskriminiere.

Höfling: Wenn die Fachgesellschaften tatsächlich eine Vorgabe formulieren würden, wonach etwa Mukoviszidose-Kranke von vorne herein von einem Beatmungsgerät ausgeschlossen sind, - wie dies in einigen US-Bundesstaaten der Fall sein soll -, dann würde das in der Tat mit Verfassungsrecht kollidieren. In diesem Falle müsste der Staat, wenn einer solchen fachgesellschaftlichen Regel in der Krankenhauspraxis Folge geleistet würde, einschreiten. Das müsste aber nicht der Gesetzgeber sein. Aber diese Gefahr sehe ich im Moment nicht.

KNA: Allerdings verweist die DIVI beim Kriterium der Gebrechlichkeit weiter auf eine Skala von Gebrechlichkeiten, die derartige Abstufungen vornimmt.

Höfling: Das muss man sich dann genauer anschauen. Soweit damit die ärztliche Indikationsstellung konkretisiert wird, ist insoweit kein prinzipieller Einwand zu erheben. Es ist aber darauf zu achten, dass dabei keine Diskriminierungsverbote verletzt werden. Ein Gebrechlichkeitskonzept, das dazu führt, typischerweise Menschen mit Behinderung - etwa Mukoviszidose-Patienten oder Menschen mit Trisomie 21 -, auszuschließen, wäre nicht akzeptabel. Entscheidend bleibt, dass jeweils der individuelle Patient in den Blick genommen wird und die Entscheidung der ärztlichen Urteilskraft überantwortet bleibt.

KNA: Als besonders kritisch gilt der zweite Fall der Triage: Wenn wegen fehlender Ressourcen einem Patienten, der zunächst beatmet wird, das Gerät abgestellt wird, um es einem anderen mit besseren Überlebenschancen zu geben. Wie ist das zu bewerten?

Höfling: Objektiv verstößt das gegen das Recht. Das ist ein Akt der Tötung und damit strafbar.

KNA: Der Ethikrat verweist aber auf die Nachsicht des Gerichts...

Höfling: Auch das ist kein Freibrief. Das Gericht kann gegebenenfalls einen entschuldigenden Notstand annehmen und die Person nicht bestrafen, weil der betreffende Arzt in der tragischen und im eigentlichen Sinne dilemmatischen Situation aus einer Gewissensentscheidung heraus sich zu diesem Schritt entschlossen hat. Der Akt bleibt aber weiter rechtswidrig. Solche tragischen Entscheidungen entziehen sich der normativen Regulierbarkeit des Staates.

KNA: Ist es aber nicht ein Dammbruch, dies überhaupt grundsätzlich als Casus in Erwägung zu ziehen. Auf Intensivstationen würde dies zu einem permanenten Abwägungsprozess führen.

Höfling: Dies kann sicherlich nicht akzeptiert werden, wenn gleichsam eine Dauerevaluation auf der Intensivstation erfolgen würde, wer denn nun unter denjenigen, für die immer noch eine Indikation zur Weiterbehandlung besteht, die besten Überlebenschancen hat. In besonders gelagerten Einzelfällen wird man den Rückgriff auf den entschuldigenden Notstand in Betracht ziehen können.

Das Interview führte Christoph Scholz.


Quelle:
KNA
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