DOMRADIO.DE: Wenn man an biblische Geschichten denkt, geht es oft um die Frage, ob Söhne und Töchter gehorsam und wohlgeraten sind. Täuscht der Eindruck?
Prof. Dr. Sandra Huebenthal (Lehrstuhl für Exegese und Biblische Theologie der Universität Passau): Ja, der Eindruck täuscht. Im Alten Testament gibt es viele Geschichten mit Söhnen und Töchtern, im Neuen Testament dagegen fast keine. Die alttestamentlichen Erzählungen sind selten reine Söhne- oder Töchtergeschichten, sondern Geschichten aus dem prallen Leben – mit allen Facetten. Da kommt alles vor, was so passieren kann.
Man denke an Lots Töchter, die meinen, es gebe keine Männer mehr, und deshalb den eigenen Vater auswählen. Oder man denke an Jiftach im Richterbuch, der seine Tochter opfert, weil sie ihm als Erste über den Weg läuft. Oder David, der es nicht schafft, seine Tochter Tamar vor sexuellen Übergriffen zu schützen. Oder an Dina, die Tochter Jakobs, die viele Bibelleser gar nicht kennen.
Oft geht es nicht darum, ob die Kinder "wohlgeraten" sind, sondern um menschliche Konflikte und Machtspiele. Rahel, die Tochter Labans, stiehlt zum Beispiel die Hausgötter ihres Vaters.
DOMRADIO.DE: Gibt es eine Söhne- oder Töchtergeschichte, die Sie besonders außergewöhnlich finden?
Huebenthal: Eigentlich nicht. Auffällig ist vor allem, dass solche Geschichten im Neuen Testament fast keine Rolle mehr spielen. Die einzige Ausnahme ist, dass Jesus bei seiner Familie nicht besonders gut wegkommt. Im Markusevangelium heißt es, Mutter, Brüder und Schwestern wollten ihn zurückholen, weil sie glaubten, er sei "völlig durchgeknallt". Sie wollten ihn vor sich selbst schützen.
DOMRADIO.DE: Im Neuen Testament gibt es also kaum Söhne- und Töchtergeschichten, aber Jesus wird als Sohn Gottes bezeichnet. Warum ist das so wichtig?
Huebenthal: Die Familienmetapher wird auf die Beziehung Gottes zu seinem Volk und seinen Kindern übertragen. Jesus ist das Paradebeispiel dafür – ob als leiblicher oder nicht leiblicher Sohn spielt dabei keine Rolle. "Sohn" steht für eine enge, emotionale Beziehung.
In den Evangelien ist Jesus zunächst der Sohn Gottes. Bei Matthäus wird dann klar, dass alle Söhne und Töchter Gottes werden sollen. Es entsteht eine neue Familie jenseits der Herkunftsfamilie. Die Bezeichnung als Sohn – unabhängig davon ob leiblicher oder nicht leiblicher Sohn – drückt eine emotionale Nahbeziehung aus. Die Nähe zwischen Eltern und Kindern beschreibt die Beziehung zwischen Gott und den Menschen. Jesus ist das Vorbild dafür, wie es sein soll. Und alle sind eingeladen, Teil dieser Familie zu werden.
DOMRADIO.DE: Welche Botschaft dieser Geschichten ist heute noch wichtig?
Huebenthal: Wichtig ist, dass Eltern und Kinder gut miteinander umgehen, sich achten und zuhören, bevor sie ein Urteil fällen. Eltern sollten ihre Kinder respektieren und versuchen zu verstehen, was hinter ihrem Verhalten steckt – und umgekehrt.
Die Bibel betont außerdem, dass zu viel Freiheitsdrang begrenzt werden sollte. Ziel vieler Gebote ist es, dass das gesellschaftliche Miteinander funktioniert.
DOMRADIO.DE: Gibt es Unterschiede in den Geschichten, je nachdem, ob sie von Söhnen oder Töchtern handeln?
Huebenthal: Ja. In der antiken Gesellschaft – auch im Alten Israel – hatten Männer und Frauen unterschiedliche soziale Spielräume. Da greift das, was wir als Stereotyp kennen. Die Söhne waren eher draußen, die Töchter im Haus.
Das bedeutete, dass männlicher Aktionsdrang stärker kontrolliert werden musste. Das ist auch noch in neutestamentlicher Zeit so. Deshalb gibt es mehr "knackige" Geschichten über Söhne als über Töchter.
DOMRADIO.DE: Fragen Sie sich manchmal, was geschehen wäre, wenn Jesus eine Tochter gewesen wäre?
Huebenthal: Ehrlich gesagt nein. Wahrscheinlich ist es so tief in unserer Sozialisation verankert, dass Jesus ein Sohn ist, dass ich nie darüber nachgedacht habe. Vermutlich hätte ihn damals niemand ernst genommen, wenn er ein Mädchen gewesen wäre.
Das Interview führte Heike Sicconi.