DOMRADIO.DE: Der Freitag nach Christi Himmelfahrt ist in Weingarten quasi ein Feiertag. Im Mittelpunkt der Reiter-Prozession steht die Heilig-Blut-Reliquie. Sie wird dort seit über 900 Jahren verehrt. Was hat es damit auf sich?
Ekkehard Schmid (Pfarrer und Leiter des Dekanats Allgäu-Oberschwaben): Das ist eine lange Geschichte, die in Mantua am Karfreitag beginnt. Es ist das Blut Christi, das der Soldat nach dem Johannesevangelium empfangen hat und nach Mantua brachte. Dort wurde im Mittelalter das Blut entdeckt und geteilt.
Ein Teil kam auf Umwegen über die Alpen im 11. Jahrhundert an das neu gegründete Welfenkloster Weingarten. Seitdem gibt es in Weingarten diesen Blutstropfen Christi.
Das Besondere ist, dass wir in Mantua wie in Weingarten nur einen Teil dieser Reliquie haben und uns das bewusst ist. Wir haben jeweils eine Hälfte von der anderen Seite. Das ist das Besondere an dieser Heilig-Blut-Wallfahrt.
Es gibt auch andere Heilig-Blut-Reliquien. Dieses Wissen ist schon im 12. Jahrhundert verbrieft. Es gibt Verbrüderungen und wir haben eine Partnerschaft mit der Diözese Mantua. In diesem Jahr kommt der Bischof von Mantua zum Blutritt und wir fahren immer zum Karfreitag nach Mantua.
An dem Tag haben sie dort ihre Heilig-Blut-Prozession. Das finde ich einen schönen europäischen Gedanken aus dem Mittelalter. Es ist zunächst mal das Besondere an diesem Blutstropfen Jesu, den wir hier in Weingarten sehen.
DOMRADIO.DE: Etwa 1.800 Reiterinnen und Reiter werden wieder durch Weingarten ziehen. Rund 20.000 Zuschauer werden sich das Spektakel angucken. Warum hat der Blutritt heute noch so eine Dimension?
Schmid: Der Blutfreitag ist in Oberschwaben, zwischen Donau, Ulm und Bodensee schon seit 500 bis 600 Jahren Tradition.
Es war ein bäuerlicher Ritt, deshalb gab es Pferde, die Bauern brachten ihre Traktoren mit, ihr Arbeitsgerät, um so noch einmal in der Bittwoche für eine gute Aussaat und Ernte zu beten. Alles kulminiert an diesem Freitag hier in Weingarten, an dem aus allen Dörfern und Städten die Delegationen und Abordnungen kamen.
Das Interessante ist dabei, auch über die napoleonischen Wirren, über die Aufklärung, über die Auflösung des Klosters hier in Weingarten im 19. Jahrhundert hat sich dieser Blutfreitag gehalten und zwar von unten.
Die Bauern sind trotzdem gekommen und der Ortspfarrer hat trotz Verbot diese Reiterprozession weitergemacht. Es war ein Aufstand von unten, auch im Zweiten Weltkrieg. Es war ein ganz großes Bedürfnis der Bevölkerung, diese Prozession zu halten.
Das ist eine große Identität in Oberschwaben. Es kommen neben den 1800 Reitern zwei bis drei Tausend Musiker dazu. Es ist ein Riesenspektakel in der Stadt, ein großes Fest. Draußen in der Flur findet man das Gebet der Rosenkränze und die Stille. Der Kontrast in Weingarten ist spannend.
Auch das Niederschwellige ist das Besondere am Blutritt. Das ist nicht nur ein Gottesdienst, es ist auch ein profanes Fest. Man kann nebenher essen und trinken. Die Politiker kommen, auch die Abgeordneten und auch der Ministerpräsident wird kommen.
Diese Mischung, die gibt es heute kaum mehr, dass Kirche und Staat, Leib und Seele, Mensch und Gläubiger so ineinander übergehen. Ich glaube, das ist heute das Besondere, dass man auch von der Vorstellung der Versöhnung durch Christus her die Einheit und den Zusammenhalt feiert.
Wir haben am Blutfreitag mittlerweile geradezu Multikulti und dieses Fest der Einheit aus dem christlichen Glauben ist ein starkes Zeichen gerade für das 21. Jahrhundert.
DOMRADIO.DE: Traditionell geht es los vor Sonnenaufgang, um 4 Uhr mit einer Reitermesse. Später gibt es die rund zehn Kilometer lange Prozession. Für Mensch und Tier ist das nicht ohne. Dazu werden knapp 25 Grad erwartet.
Schmid: Genau, wir sind mit den Tierärzten und den Veterinären in bestem Kontakt. Für die Pferde ist es auch entspannend, weil sie bereits ein Tag vorher in die Quartiere kommen. Das Ganze ist sehr gemütlich, langsam und entschleunigt.
Es ist kein Pferdesport, nichts Aufregendes. Es ist etwas sehr Entspanntes. Auch die Leute sind super entspannt. Diese Ruhe, glaube ich, spürt man. Mein Eindruck ist, dass auch die Pferde den Tag "genießen". Sie stehen wirklich im Mittelpunkt.
DOMRADIO.DE: Welche Bedeutung hat die Teilnahme für Sie persönlich?
Schmid: Es ist wie an Fronleichnam sehr bewegend für den Priester zu wissen, dass man einen Dienst hat, aber man sieht aus einem exponierten Blickwinkel auf tausende Gesichter.
Man spürt in einem Augenblick, wie tief man in einen Menschen hineinsehen kann, was ihn bewegt, an Vertrauen, an Bitte, an Offenheit, an Skepsis. Das finde ich jedes Jahr erneut berührend, wie viele in dem Moment, an dem das Heilige Blut vorübergeht, sich öffnen und diesen Segen bewusst empfangen. Das ist für mich immer wieder sehr beeindruckend und beglückend.
DOMRADIO.DE: Festgast ist der Speyerer Bischof Karl-Heinz Wiesemann. Er hat den Blutritt unter das Leitwort "Pilger der Hoffnung" gestellt. Das Motto des Heiligen Jahres, das noch Papst Franziskus für 2025 ausgerufen hatte. Warum passt das so gut?
Schmid: Weil eine Prozession und ein Bittgang immer von Hoffnung leben. Man vertraut nicht nur auf sich selber, sondern auch auf Gott. Man baut darauf, dass er uns durch dieses Gebet immer wieder neue Ansätze, neuen Mut und neue Fingerzeige gibt.
Von daher ist man am Blutfreitag beides: Man ist ein Pilger und man ist immer ein hoffender Mensch, der darauf vertraut, dass man durch so einen Tag anders heimkommt, wie man gekommen ist.
Ich kann sagen, viele Bürgermeister und Abgeordnete sagen mir immer, dass sie diesen Tag nicht missen wollen. Der Tag tue ihnen gut und sie gingen anders an ihre Arbeit zurück. Sie könnten dadurch vieles verarbeiten. Von daher passt das Motto "Pilger der Hoffnung" von Bischof Wiesemann wunderbar.
Das Interview führte Carsten Döpp.