DOMRADIO.DE: Aus christlicher Verantwortung müsste es doch unser Anliegen sein, dass das, was wir hier in Europa konsumieren, nicht dazu führt, dass anderswo Menschen leiden. Wie blicken Sie auf das Thema Lieferkettengesetz?
Riccardo Wagner (Professor für Nachhaltiges Management und Kommunikation an der Hochschule Fresenius in Köln): Das sollte eigentlich die Grundeinstellung sein. Leider haben wir das in den letzten Jahren aus dem Blick verloren. Das war natürlich auch ein Teil der schwierigen politischen Debatte, die wir in den vergangenen Jahren erlebt haben. Wir haben den Blick auf die persönliche Verantwortung zunehmend verloren. Ebenso auf die Verantwortung der Unternehmer.
Stattdessen hat sich die Debatte sehr stark in Richtung einer rein rechtlichen Perspektive verschoben. Die Frage lautete zunehmend nur noch: Ist das legal? Darf man dies, darf man jenes? Und wir haben nicht mehr die Frage der Legitimität gestellt: Ob es in Ordnung ist, dass ich so etwas tue. Deshalb drehte sich die politische Diskussion jahrelang fast ausschließlich um eines: Wir brauchen Gesetze, immer mehr Gesetze, weil das leider oft die Realität ist.
Von selbst haben es die Unternehmen nicht getan. Die Haltung war oft, auch bei den Konsumenten, dass ja ein Gesetz kommen würde. Dann würde man sich danach richten.
DOMRADIO.DE: Gibt es überhaupt eine Alternative? An die Eigenverantwortung der Unternehmer zu appellieren hat bislang auch nicht wirklich funktioniert.
Wagner: Nein, es gibt keine Alternative dazu. Man kann nicht jemanden auf Dauer extrinsisch motivieren. Man kann mit Strafe und Belohnung immer ein wenig erreichen. Aber man wird immer nur erreichen, dass die Menschen nur das tun, was sie unbedingt tun müssen, und nicht das, was notwendig wäre.
Deswegen gibt es keine Alternative, als an das persönliche Verantwortungsgefühl und an die Verantwortungspflicht der Unternehmen immer wieder zu appellieren. Unternehmen zu schulen und ihnen natürlich auch Wege zu bieten, wie sie das auch wahrnehmen können.
Wollen ist ja das eine, können das andere. Gerade beim Thema Lieferkette haben wir extrem schwierige Bedingungen. Die Lieferketten sind nicht nur global, was es schon komplex genug macht, sondern sie sind auch extrem ausdifferenziert. Wenn wir uns ein ganz normales mittelständisches Unternehmen oder einen Großkonzern anschauen, dann gibt es dort nicht nur einen einzigen Lieferanten, den man mal eben besuchen könnte, um zu prüfen, ob es den Mitarbeitern gut geht.
Sondern man hat teilweise fünf, sechs, sieben, zehn Stufen in der Lieferkette mit Hunderten Unternehmen, die da involviert sind. Das kann man aus deutscher Perspektive gar nicht mehr kontrollieren. Das heißt, selbst wenn man wollte, könnte man es nicht.
DOMRADIO.DE: Die Verantwortung läge eher darin, die Unternehmen zu unterstützen, anstatt vor allem über Verbote und neue Regularien zu gehen?
Wagner: Man braucht natürlich Rahmensetzung. Man muss schon klarstellen, dass das das Minimum ist, was man verlangt. Man muss Grenzen setzen. Das finde ich wichtig. Dann muss es vor allem darum gehen, die Unternehmen zu befähigen, ihnen also Werkzeuge und Möglichkeiten an die Hand zu geben und ihnen zugleich mehr eigenen Ermessensspielraum zu lassen. In der Gesetzgebung wurde das zu Recht stark kritisiert, auch von Wirtschaftsverbänden.
Auf EU-Ebene ist da viel Regulierung aufgebaut worden mit unglaublich komplexen Gesetzen, die man zum Teil gar nicht einhalten kann, selbst wenn man will. Und wenn man sie dann einhält, ist es mit erheblichen Kosten verbunden, die man nicht unbedingt weitergeben kann. Das heißt, das unternehmerische Risiko liegt dann beim Unternehmen selbst.
Es gibt große Bürokratiekosten, die man aber nicht an die Kunden weitergeben kann. Also wir brauchen tatsächlich beides, eine klare Rahmensetzung und gleichzeitig Unterstützung, Schulung und Möglichkeiten, damit die Unternehmer auch handeln können.
DOMRADIO.DE: Was sagt uns da die katholische Soziallehre? Haben wir nicht auch eine Verantwortung gegenüber den Menschen in der Lieferkette?
Wagner: Definitiv. Nicht nur, weil die Menschenwürde in Deutschland gilt, sondern weil sie weltweit gilt. Aus Sicht der Gerechtigkeit, einem weiteren zentralen Prinzip der Soziallehre, wollen wir, dass alle Menschen weltweit nach ihren Fähigkeiten und Potenzialen leben und sich entfalten können, ohne benachteiligt oder übervorteilt zu werden.
Das andere ist die Subsidiarität. Man kann nicht nur auf die EU schauen und abwarten, ob Gesetze erlassen werden. Verantwortung muss vom einzelnen Menschen ausgehen, der sich selbst verantwortlich verhält und diese Verantwortung nicht ständig nach oben delegiert. Uns ist klar, wir haben nicht nur Würde, sondern wir haben auch Verantwortung und das gilt für jeden Unternehmer und für jeden, der in dem Unternehmen arbeitet. Insofern liegt dieser Gedanke natürlich voll auf der Linie der Soziallehre.
Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.