"Auf dem Fußballplatz, so erzählt man sich an der Jesuitenhochschule Sankt Georgen in Frankfurt am Main, landete früher bisweilen ein Hubschrauber mit prominenten Unionspolitikern wie Arbeitsminister Blüm oder Bundespräsident von Weizsäcker. Sie besuchten den großen Nestor der Katholischen Soziallehre Oswald von Nell-Breuning SJ, um von ihm Inspiration und Orientierung für ihr politisches Handeln zu erhalten.
Von der "Verfügungsgewalt über Menschen"
Was "der alte Nell" seinen Gästen mit auf den Weg gegeben haben mag, lässt neben anderem ein Blick in seinen Aufsatz "Eigentum und Verfügungsgewalt in der modernen Gesellschaft" aus dem Jahr 1956 erahnen. Dort schreibt er: "Versteht man unter "Eigentum" den Produktionsmittelapparat mit allen dazugehörenden Rechten, Goodwill usw., dann ist selbstverständlich dieses so verstandene gegenständliche Eigentum auch heute noch ein ungeheurer Machtfaktor und wird es wohl in allen Rechts- und Gesellschaftsordnungen bleiben (…)". Weiter hält er fest, dass Eigentum "keine Verfügungsgewalt über Menschen" verleihen soll, sondern die Nutzung von Gütern "in geordnete Bahnen" zu lenken sei – zum Nutzen des Eigentümers und zugleich der Allgemeinheit.
Heute landen wohl keine Hubschrauber mehr auf dem Campus der Jesuitenhochschule und auch sonst ist in sozialethischen Belangen eine schon Jahre andauernde Sprachlosigkeit zwischen dem sich selbst als christlich bezeichnenden politischen Spektrum einerseits und der Kirche samt ihren Sozialworten andererseits zu verzeichnen. Auch wenn weiterhin einige Abgeordnete öffentlich ihre normative Fundierung im christlichen Glauben betonen und dies zum Teil auch durch Mitgliedschaften in Sozialverbänden wie Kolping zu dokumentieren suchen, geht es ihnen scheinbar wie ihrem Kanzler und Parteivorsitzenden, der diese Woche in der ARD-Wahlarena seinen persönlichen katholischen Glauben betonte, jedoch auch klar machte: "Aber mit christlicher Nächstenliebe können wir nicht jedes politische Problem beantworten."
Nun hatte Bismarck sicher Recht, dem das Wort zugeschrieben wird, dass man mit der Bergpredigt keine Politik machen könne. Aber gegen die Bergpredigt kann man zumindest keine Politik machen, die für sich in Anspruch nimmt, auch nur Spuren der katholischen Sozialtradition zu enthalten.
Selbstanspruch und politische Wirklichkeit klaffen auseinander
Der Abbau des mühsam errungenen Lieferkettengesetzes und seine korrespondierende EU-Richtlinie sind ein solch beredtes Beispiel, wo Selbstanspruch und politische Wirklichkeit eklatant auseinanderklaffen. Da stehen auf der einen Seite die Kirche mit vielen Bischöfen und den Hilfswerken sowie katholische Verbände, die sich allesamt intensiv in der "Initiative Lieferkettengesetz" engagieren. Sie formulieren klare Forderungen für eine Regelung, die Unternehmen in die Pflicht nimmt dafür Sorge zu tragen, dass Menschen- und Umweltrechte entlang ihrer Wertschöpfungskette Berücksichtigung finden müssen. Dem gegenüber steht in Deutschland eine Union und in Europa eine EVP-Fraktion, die genau das nicht will. Es sei zu bürokratisch und hemme das Wachstum in der EU. So überzeugt ist dieses politische Lager oder so stark ist ihre Abhängigkeit von den Unternehmerverbänden, dass sie sogar bereit sind, gemeinsam mit den Rechtsextremen im EU-Parlament der Verwässerung der Richtlinie zur Mehrheit zu verhelfen.
Dabei haben Kirche und Sozialethik die besseren Argumente auf ihrer Seite: Die Richtlinie ist mitnichten das propagierte "Bürokratiemonster". Dem minimalen administrativen Mehraufwand stehen mehrfache Nutzen gegenüber – langfristig sowohl ökonomische, vor allem aber normative: Kein Unternehmen darf billigend in Kauf nehmen, dass es Gewinne durch Kinderarbeit macht, durch Sklavenarbeit, Ausbeutung oder die systematische Verschmutzung der Natur und die Zerstörung der Lebensgrundlagen auf unserem Planeten.
Die "Verfügungsgewalt über Menschen", von der Nell-Breuning schrieb, ist heute de facto in der Hand von millionenschweren Großunternehmen, die global agieren. Das Lieferkettengesetz wäre die derzeit am besten passende "geordnete Bahn" zur Schaffung von Rücksicht und Sorgfalt, ohne diese Unternehmen über Gebühr zu belasten.
Wir stehen in den Tagen des Advents. "Vom Himmel hoch" singen viele da in froher Erwartung. Ein Hubschrauber ist es heute nicht mehr, der von oben kommt, der Sozialethik und Politik zusammenbringt. Aber ein anderer wird kommen, von dem es im Lied weiter heißt... "der will euch führen aus aller Not". Den Menschen, die heute jeden Tag unter Ausbeutung und Verschmutzung ihrer Umwelt leiden, steht er weiterhin an der Seite und gibt ihnen jene Hoffnung, die ihnen die Politik heute versagt."
Dr. Markus Demele ist Generalsekretär von Kolping International