DOMRADIO.DE: Den Jakobsweg zu gehen ist eine besondere Reise. Viele wollen diese Erfahrung alleie, mit dem Partner oder bewusst in einer Pilgergruppe machen. Warum hast du gesagt: "Ich gehe mit meiner Mama"?
Tobi Schlegl (Journalist, Moderator und Buchautor): Das war eigentlich ihre Idee. Meine Mutter wollte den Jakobsweg unbedingt einmal in ihrem Leben gehen. Sie ist gläubige Christin, hat sich aber nicht getraut, das alleine zu machen. Verständlich, sie ist inzwischen Mitte siebzig. Also hat sie jemanden aus der Familie gesucht, der sie begleitet. Sie hat das immer wieder in die Runde gefragt und ehrlich gesagt: Wir haben uns alle ein bisschen weggeduckt. Keiner hatte so richtig Lust oder Mut dazu.
Irgendwann habe ich dann aber gemerkt, dass das eine riesige Chance ist, meiner Mutter noch einmal wirklich nahe zu kommen. Sie abseits der Mutterrolle kennenzulernen und Fragen zu stellen, die sonst nie gestellt werden. Deswegen habe ich zugesagt. Obwohl das anfangs ziemlich blauäugig von mir war, hat es sich für mich total gelohnt. Ich habe sie auf diesem Weg noch einmal ganz neu kennengelernt. Der Jakobsweg selbst hat viel mit mir gemacht. Ich bin plötzlich zum großen Wanderfreund geworden, ein richtiger "Camino-Fan".
DOMRADIO.DE: Am Anfang konntest du mit dem Wandern nichts anfangen. Jetzt gehst du gerne wieder los?
Schlegl: Ja, absolut. Da ist unterwegs etwas passiert. Man kommt anders an, als man losgeht. Das ist das Mystische am Jakobsweg. Es geht um das Kennenlernen des eigenen Ichs und um eine Auseinandersetzung mit dem Glauben. Für mich kam noch dazu, dass ich den Weg nicht allein gegangen bin, sondern mit meiner Mutter. Ich habe sie auf eine Weise erlebt, wie noch nie zuvor. Am Ende bin ich nicht nur mit meiner Mutter angekommen, sondern mit einer engen Freundin. Das ist ein echtes Geschenk fürs Leben.
Deshalb möchte ich diese Erfahrung mit dem Buch, das ich darüber geschrieben habe, und mit dem Podcast, der gerade läuft, weitergeben. Ich glaube, dass es vielen guttun würde, ihre älter werdenden Eltern noch einmal neu kennenzulernen.
DOMRADIO.DE: Viele fanden es erstaunlich, dass du mit deiner Mutter losgepilgert bist.
Schlegl: Ja, das ist auch nicht ganz gewöhnlich. Im Laufe des Lebens zieht man bei den Eltern aus, führt sein eigenes Leben, trifft sich meist nur noch an Wochenenden oder an Feiertagen. Der Alltag dominiert. Man fährt mit Freunden oder Partnern in den Urlaub. So war es auch bei mir.
Ich hatte ehrlich gesagt großen Respekt davor, einen ganzen Monat so eng mit meiner Mutter zusammen zu sein. Wir wissen genau, wie wir uns gegenseitig mit ein, zwei Sätzen auf die Palme bringen können. Ich hatte Angst, dass das eskaliert; dass wir uns nur streiten und am Ende abbrechen. Aber das ist nicht passiert. Zwei Mal haben wir uns richtig gestritten. Das gehört dazu. Man muss Dinge, die sich aufgestaut haben, auch mal rauslassen.
Jede Familie hat Themen, über die ungern gesprochen werden, kleine Geheimnisse oder unausgesprochene Konflikte. Im Alltag schiebt man das vor sich her. Mein Appell ist, das nicht zu tun. Haltet inne und nehmt euch Zeit, um diese Themen anzusprechen. Es tut unglaublich gut, wenn man sich endlich ausspricht. Man sollte das tun, bevor es zu spät ist, weil die Eltern zu alt werden oder gar nicht mehr da sind. Ich merke das auch in meinem Job als Notfallsanitäter. Das Leben kann sich von einem Moment auf den anderen verändern. Wir sollten unsere Eltern jetzt wertschätzen, nicht irgendwann.
DOMRADIO.DE: Du hast auf dem Weg jeden Tag kurze Aufnahmen gemacht. Die Podcastfolgen sind meist nur vier Minuten lang. Wie kam es zu diesem Format?
Schlegl: Ich habe schon während meiner Notfallsanitäter-Ausbildung 2016 angefangen, Tagebuch zu schreiben, um Erlebnisse - gerade die schweren zwischen Leben und Tod - besser verarbeiten zu können. Auf dem Jakobsweg wollte ich das fortsetzen, wusste aber, dass ich abends sicher zu erschöpft zum Schreiben bin. Deswegen habe ich ein kleines Mikrofon mitgenommen, um jeden Tag ein paar Gedanken einzusprechen, meist fünf Minuten.
Anfangs habe ich einfach erzählt, was passiert ist. Doch dann war meine Mutter ständig neben mir. Also habe ich sie mit einbezogen. So sind echte Gespräche entstanden. Außerdem habe ich unterwegs andere Pilger angesprochen. Dadurch sind Begegnungen entstanden, die ohne Mikrofon vielleicht nie passiert wären. Zum Beispiel Yehuda aus Israel. Sein Vater ist Opernsänger und er hat uns unterwegs immer wieder etwas vorgesungen, um uns Kraft zu geben. Das sind Momente, die man in einem Buch kaum festhalten kann, aber in einem Podcast unmittelbar spürbar werden.
DOMRADIO.DE: Was war für dich der schönste Moment mit deiner Mutter auf diesem Weg?
Schlegl: Der ergreifendste Moment war eigentlich keiner der Schönen, zumindest auf den ersten Blick. Wir waren an einem besonders heißen Tag rund dreißig Kilometer unterwegs. Kurz vor dem Etappenziel wurde mir schwarz vor Augen. Ich bin im Laden in der Schlange zusammengebrochen. Das Schöne war, was dann passierte. Meine Mutter hat mich aufgehoben, mich gestützt und in die Herberge gebracht. Sie war in diesem Moment die Starke. Das werde ich nie vergessen.
In der Herberge hat sie dann zu mir gesagt, dass sie so stolz auf mich ist. Das hat mich unglaublich berührt. Ich kann mich nicht erinnern, das je zuvor von ihr gehört zu haben. Ich finde, Eltern sollten das ihren Kindern viel öfter sagen und auch umgekehrt. Dieser Satz war für mich einer der kostbarsten Momente auf dem ganzen Weg.
Das Interview führte Lara Burghardt.