Vor 80 Jahren deportierte die SS mehr als 1.000 Juden in Rom

Unter dem Fenster des Papstes

Am Sabbat-Morgen des 16. Oktober 1943 riegelten SS-Einheiten das jüdische Ghetto in Rom ab. Hat Pius XII. tatenlos zugesehen, als Roms Juden abtransportiert wurden? Der Papst schwieg, blieb aber nicht untätig, meinen Wissenschaftler.

Autor/in:
Christiane Laudage
Bild von Papst Pius XII. im Archiv des Dikasterium für die Glaubenslehre am 27. Juni 2023 im Vatikan. / © Paul Wuthe/Kathpress (KNA)
Bild von Papst Pius XII. im Archiv des Dikasterium für die Glaubenslehre am 27. Juni 2023 im Vatikan. / © Paul Wuthe/Kathpress ( KNA )

Der Zeitpunkt war mit Bedacht gewählt. Am 16. Oktober 1943, dem Sabbat-Morgen, als die jüdischen Familien zuhause waren, riegelten SS-Einheiten das jüdische Ghetto in Rom ab. Sie trieben die Bewohner aus ihren Wohnungen heraus wie auch in anderen Teilen der Stadt, wo weitere SS-Leute mit Adressenlisten der jüdischen Bewohner unterwegs waren.

Insgesamt wurden 1.259 jüdische Menschen in ein ehemaliges Militärkolleg in der Nähe des Vatikans gebracht. Die Zahl erhöhte sich um eins, weil eine schwangere Frau aufgrund der traumatischen Ereignisse vorzeitig ihr Kind gebar. Zwei Tage später wurden die Gefangenen in 18 fensterlose Viehwaggons gequetscht, am 23. Oktober kamen sie dann in Auswitz an. Es überlebten nur 16.

Anklagen gegen den Papst

Der US-amerikanische Historiker David Kertzer erhebt in seiner im vergangenen Jahr veröffentlichten Darstellung über Pius XII. den Vorwurf, der Vatikan habe zwar Juden geholfen, aber nur dann, wenn sie getauft waren oder in einer Ehe mit einer getauften Person lebten. Tatsächlich prüften die Deutschen bei den Gefangenen im Militärkolleg die Dokumente und ließen diese Personen frei. "Man befand sich ja schließlich in Rom, nicht in Polen oder Russland, und die Deutschen wollten den Vatikan nicht über die Maßen provozieren", schreibt der Historiker.

Der Abtransport der römischen Juden quasi unter dem Fenster des Papstes ist auch eine Schlüsselszene in dem 1963 veröffentlichten Drama "Der Stellvertreter". Der Schriftsteller Rolf Hochhuth (1931-2020) klagte Papst Pius XII. an, er habe zum Mord an den Juden geschwiegen, und die Kirche habe zuwenig dagegen getan.

Schicksal der Juden bekannt

Mitte Oktober haben Wissenschaftler bei einem internationalen Fachkongress an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom neue Ergebnisse zum Pontifikat des Pius-Papstes (1939-1958) vorgestellt. Pius wäre früher und umfassender über die Massenvernichtung der Juden im Deutschen Reich informiert gewesen als bisher bekannt, so der Historiker Michele Sarfatti. Der Papst wusste also, welches Schicksal die abtransportierten Menschen erwartete.

Tatsächlich blieben Papst und Vatikan nicht untätig. In den verschiedensten kirchlichen Einrichtungen fanden Juden wie auch andere von den Nazis Verfolgte eine Zuflucht, mehr als einmal über das Fassungsvermögen hinaus. Das war nur möglich mit dem Einverständnis des Papstes.

Neue Quellen

Eine vor kurzem wiedergefundene Liste mit den Namen von in Klöstern versteckten Juden ist im Archiv des Päpstlichen Bibelinstituts aufgetaucht. Die Liste umfasste mehr als 4.300 Menschen, von denen 3.600 namentlich genannt wurden. 3.200 waren mit Sicherheit Juden, wie ein Abgleich mit dem Archiv der jüdischen Gemeinde ergab.

Nicht nur in Rom und Umgebung war die Kirche aktiv. In Florenz gab es ein interreligiöses Netzwerk unter der Leitung des Erzbischofs, Kardinal Elia dalla Costa (1872-1961). Der Kardinal schickte einen Brief an alle Klöster in und um Florenz mit der Bitte, ihre Türen für die verfolgten Juden zu öffnen.

Über die Grenzen Italiens hinaus

Internationale Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem / © Sonja Geus (DR)
Internationale Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem / © Sonja Geus ( DR )

Yad Vashem beschrieb das als "Anfang einer einzigartigen Initiative - einer christlich-jüdischen Zusammenarbeit zwischen Erzbischof Dalla Costa und seinem Klerus einerseits und jüdischen Führungspersönlichkeiten wie Raffaele Cantoni und Rabbi Nathan Cassuto andererseits".

Hilfe der Kirche und insbesondere des Heiligen Stuhls für Juden war zugleich ein über Italien hinaus reichendes Unterfangen. Der Münsteraner Historiker Hubert Wolf hat bei seinen Forschungen zu Pius XII. nach der Öffnung der Archive 2020 bis dahin unbekannte Bittschriften an den Papst gefunden, die er mit einem Team bearbeitet. Der Historiker Matthias Daufratshofer erklärt in der Projektbeschreibung, dass mehr als 15.000 Menschen aus ganz Europa den Papst um Hilfe gebeten hätten.

Aufarbeitung der Quellen

Vatikanarchiv / © Cristian Gennari/Romano Siciliani (KNA)
Vatikanarchiv / © Cristian Gennari/Romano Siciliani ( KNA )

Das Team um Wolf arbeitet diese Briefe auf. Eine erste Analyse der Quellen ergab, dass der Heilige Stuhl wann immer möglich auf Hilferufe reagiert habe, etwa mit Geld, Essen oder einem Visum. Wolf sagte auf dem Kongress, statt zu fragen, was der Papst angesichts des Holocaust getan habe, müsse nun gefragt werden, was der Vatikan als Ganzes getan habe.

Seit drei Jahren stehen die vatikanischen Archive den Forschern offen. Bei dem internationalen Kongress zeigte sich jedoch, dass sowohl die "Verteidiger" des Papstes wie auch seine "Ankläger" sich bestätigt sahen. Einig waren sie sich in der Einschätzung, dass die Forschenden noch lange brauchen werden, um das gesamte Material zu sichten. Und dann erst könne man zu einem endgültigen Urteil kommen.

Kongress zur Rolle von Pius XII. in der NS-Zeit

Neue Dokumente und Archivfunde zur Rolle von Papst Pius XII. während NS-Zeit und Zweitem Weltkrieg sind in dieser Woche Thema einer internationalen Fachtagung an der Päpstlichen Gregoriana-Universität in Rom. Experten und Institutionen diskutieren von Montag bis Mittwoch über Entdeckungen, die sie seit der Öffnung der Vatikan-Archive aus dem Pontifikat des Pacelli-Papstes (1939-1958) im März 2020 ausgewertet haben.

Die Päpstliche Universität Gregoriana in Rom / © Romano Siciliani (KNA)
Die Päpstliche Universität Gregoriana in Rom / © Romano Siciliani ( KNA )
Quelle:
KNA