Historiker Wolf untersucht Rolle von Kurie für Shoah

"Weg von der Konzentration auf Pius"

Historiker und Theologen ringen in dieser Woche im Vatikan um die Einordnung der Rolle Papst Pius XII. in der NS-Zeit. Der Münsteraner Historiker Hubert Wolf fordert nun, den Blick auch auf das Umfeld des damaligen Papstes zu richten.

Papst Pius XII. (KNA)
Papst Pius XII. / ( KNA )

DOMRADIO.DE: Bei einem Fachkongress in Rom an der Gregoriana sind Forschungsergebnisse zur Rolle von Papst Pius XII. im Zweiten Weltkrieg präsentiert geworden. Herr Professor Wolf, wie erleben Sie diese Tagung?

Professor Hubert Wolf, Theologe und Kirchenhistoriker / © Harald Oppitz (KNA)
Professor Hubert Wolf, Theologe und Kirchenhistoriker / © Harald Oppitz ( KNA )

Hubert Wolf (Professor für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte an der Universität Münster): Es ist eine sehr lebendige Tagung. Vor allem ist es sehr wichtig, dass Theologen und Historiker miteinander ins Gespräch kommen. Denn anders als in Deutschland, wo ein Kirchenhistoriker natürlich ein Theologe ist, sonst könnte er ja nicht in einer theologischen Fakultät lehren, sind die meisten Historiker hier und in anderen Ländern keine Theologen. Das heißt, man muss die theologische Kompetenz immer dazu bringen, um eigentlich zu verstehen, was in den Quellen steht.

Also wenn man über getaufte Juden redet, muss man sich klar machen: Sakramententheologisch ist jemand in dem Moment, wo er getauft ist, Katholik mit allen Rechten und Pflichten. Also darf ich eigentlich von der Glaubensüberzeugung und der Lehre der Kirche her überhaupt nicht in die mögliche Diskussion verfallen, dass jemand, der vielleicht erst vor zwei Jahren getauft ist, kein richtiger Katholik sei. Genau das macht damals aber das Staatssekretariat, indem es mit Brasilien über Visa für getaufte Juden verhandelt. Das heißt, sie machen diplomatisch etwas, indem sie einen bestimmten Zeitpunkt festsetzen und sagen: 'Alle Juden, die nach 1935 getauft sind, sind keine guten Katholiken.' Obwohl das von der Lehre der Kirche sakramententheologisch ja gar nicht geht. Diese Problematik wird aber jemand, der diesen theologischen Background nicht hat, gar nicht verstehen.

Genauso wichtig ist natürlich, wenn es darum geht, wie man eigentlich generell mit Juden umgeht. Ist das Judentum ein eigener Heilsweg? Dann sind wir bei der Frage der Theologie der Religionen. Dann müssen wir verstehen, was mit der Karfreitags-Fürbitte passiert ist. Um da in dem Gespräch mit jüdischen Kolleginnen und Kollegen und damit mit der jüdischen Gemeinschaft adäquat zu stehen, sind historische und theologische Kompetenzen absolut notwendig. Insofern finde ich eine Tagung, wo Theologen und Historiker miteinander arbeiten und auch miteinander streiten, richtig gut.

DOMRADIO.DE: Es geht um die Dokumente, die neu zugänglich sind, die Sie auch untersuchen, die die spannende Frage beschäftigt: Ist die Rolle von Pius XII. neu zu bewerten? Was kann man dazu zum jetzigen Zeitpunkt sagen?

Wolf: Erst mal sollten wir uns klarmachen, was eigentlich zugänglich geworden ist. Allein im Apostolischen Archiv sin das 400.000 Schachteln mit jeweils 1000 Blatt. Jetzt haben wir noch nicht über das Archiv des Staatssekretariats, über das Archiv der Congregatio de Propaganda fide (Dikasterium für die Evangelisierung), der Glaubenskongregation, des Archivs für die orientalischen Kirchen geredet. Das ist also eine immense Masse. Meine Mitarbeiter und ich haben jetzt vielleicht 1.000 Schachteln gesehen. Das heißt, bevor man da jetzt endgültige Urteile fällt, muss man vorsichtig sein.

Aber in unserem Projekt haben wir tausende Bittschreiben jüdischer Menschen an den Papst gefunden und versuchen jetzt nicht nur, all diese Schreiben zu finden und digital zu edieren, sondern wir versuchen auch rauszukriegen, was in der Kurie mit diesen Bittschreiben konkret passiert.

Prof. Hubert Wolf

"Der Papst ist absolut abhängig von dem, was ihm die Mitarbeiter zuliefern."

Und das führt zu einer ersten wichtigen Erkenntnis: Die ganze Debatte heißt immer 'Pius XII. und der Holocaust'. Die Debatte ist aber verkürzt, weil natürlich der Papst abhängt von seinen Mitarbeitern. Das weiß man organisationsoziologisch ohnehin. Theologisch denkt man aber, das könne ja nicht so sein, weil er der Stellvertreter Jesu Christi auf Erden ist, er hat den Primat, ist unfehlbar. Aber wenn wir uns die Quellen angucken: Der Papst ist absolut abhängig von dem, was ihm die Mitarbeiter zuliefern.

Das heißt, die Mitarbeiter entscheiden, ob der Papst eine Bittschrift sieht oder nicht. In einem Fall eines jüdischen Schulkameraden hat ein Mitarbeiter entschieden: Wenn der Papst das sieht, wird er den empfangen. Das käme vielleicht so aus, als ob der Papst ein Judenfreund sei. Weil man das vielleicht politisch nicht wollte, hat er ihm die Bittschrift nicht vorgelegt. Also abhängig ist der Papst auch in den Entscheidungsvorlagen, wie diesen Menschen geholfen werden soll. Da schreiben die Mitarbeiter oft drauf: 'Machen wir das?' Oder: 'Wir geben dem 500 Lire und besorgen eine Wohnung.' Oder ähnliches. Und oft bestätigt das der Papst affirmativ.

Das Gleiche gilt auch für die Lehre von Pius XII. Der gilt ja immer so als der große Papst, der zu jedem Thema irgendetwas im ordentlichen Lehramt gesagt hat, sogar ein Dogma. Und jetzt kann man natürlich sehen, wie abhängig er eigentlich von den meistens jesuitischen Zuarbeitungen für sein Lehramt war. Von jeder Weihnachtsansprache, auch der berühmten von 1942, wo er dann mal was sagt zu den Menschen, die wegen ihrer Rasse oder ihrer Nationalität verfolgt und umgebracht werden, wissen wir, dass der Entwurf von Gustav Gundlach, einem Jesuiten, stammt. So wie alle Weihnachtsansprachen in der deutschen Fassung erstmal von Gustav Gundlach stammen.

Prof. Hubert Wolf

"Also nicht: 'Pius XII. und der Holocaust', sondern "die Kurie und die Shoah". Dann wird es ein viel, viel bunteres Bild."

Jetzt kann man allerdings nachgucken: Was hat Pius aus der Vorlage gemacht, was hat er selber geändert? Wir wissen, dass zahlreiche Enzykliken und sogar das Dogma im Grunde schon von jesuitischen Theologen hier aus der Gregoriana meistens vorbereitet worden sind.

Es gibt sogar eine ganz witzige Geschichte. Der Papst hat sich innerhalb eines Jahres zweimal zum Thema der Eucharistie geäußert. In öffentlichen Ansprachen, Allokutionen. Dann schreiben ihm fünf Bischöfe: 'Heiliger Vater, wir sind irritiert, weil Sie haben einmal das gesagt und beim nächsten Mal das.' Und dann gibt es die schöne Geschichte, die wir hier im Archiv der Gregoriana im Nachlass des Papst-Mitarbeiters und Jesuiten Franz Hürth gefunden haben: Der Papst schickt die Schwester Pascalina mit dem Mercedes rüber mit einem kleinen Zettel: 'Der Heilige Vater weiß nicht, was er gelehrt hat zum Thema Eucharistie'. Und dann schreibt ihm Franz Hürth, während die Pascalina in einem Vorzimmer sitzt, auf, was die Lehre des Papstes ist und was er den Bischöfen antworten soll. Und da sieht man also, wie abhängig der Papst von den Mitarbeitern ist.

Deshalb ist meine These. Weg von der Konzentration auf Pius. Hin zur Konzentration auf die Kurie. Also nicht: 'Pius XII. und der Holocaust', sondern "die Kurie und die Shoah". Dann wird es ein viel, viel bunteres Bild.

DOMRADIO.DE: Jetzt haben Sie und Ihr Team sich schon mit vielen Quellen auseinandergesetzt. Ganz viele, haben Sie gerade gesagt, fehlen noch. Gibt es etwas, was Sie richtig überrascht hat in dem Zusammenhang?

Wolf: Die Menge der Bittschreiben hat mich schon überrascht. Wir haben natürlich geahnt, weil es so einige Hinweise gab. Da gibt es den Hinweis: 'Die individuellen Fälle von Juden werden hier nicht berücksichtigt.' Individuell. Man denkt, es sind halt ein paar 100 oder so, aber es sind halt von 1939 bis 1945 ununterbrochen Tausende, und zwar getaufte Juden genauso wie nichtgetaufte.

Und was da überrascht, ist vielleicht vor allem, mit welcher Offenheit diese jüdischen Menschen dem Papst ihr Leben ausbreiten, obwohl sie ihm schreiben: 'Heiliger Vater. Ich weiß, dass ich mich nicht an Sie wenden darf, weil ich ein Jude bin. Ich wage es aber trotzdem, weil uns ein Gott verbindet.' Und dann erzählt dieser Mensch erst mal auf drei Seiten von einem erfolgreichen jüdischen Leben in Deutschland, einem Sohn, der ein erfolgreiches Studium absolviert und wo bis 1933 alles ganz wunderbar aussieht. Und dann kommt eine Geschichte der Migration. 1933 Flucht nach Warschau. 1939 Flucht nach Amsterdam. Dann Flucht nach Paris, dann nach Südfrankreich. Und dann die Bitte: 'Hilf uns, weil die werden uns jetzt deportieren.' Dieser erste Teil, also dieses Leben vor der Verfolgung zeigt uns die ganze Bandbreite von Jüdischsein, von jüdischem Leben in Europa, in allen europäischen Sprachen. Und dass das nicht aufhört, sondern dass das immer weitergeht, heißt ja, es hat sich in der jüdischen Community irgendwie rumgesprochen: 'Du kannst dich an den Papst wenden, da passiert irgendwie was.' Das hat uns schon überrascht.

Ich finde, dass das Thema verdient, dass wir da intensiv dran arbeiten, den jüdischen Menschen, deren Andenken die Nazis auslöschen wollten, wieder eine Stimme zu geben. Ausgerechnet mit Quellenmaterial aus dem Vatikanischen Archiv. Das ist schon etwas Besonderes.

Das Interview führte Ingo Brüggenjürgen.

Kongress zur Rolle von Pius XII. in der NS-Zeit

Neue Dokumente und Archivfunde zur Rolle von Papst Pius XII. während NS-Zeit und Zweitem Weltkrieg sind in dieser Woche Thema einer internationalen Fachtagung an der Päpstlichen Gregoriana-Universität in Rom. Experten und Institutionen diskutieren von Montag bis Mittwoch über Entdeckungen, die sie seit der Öffnung der Vatikan-Archive aus dem Pontifikat des Pacelli-Papstes (1939-1958) im März 2020 ausgewertet haben.

Die Päpstliche Universität Gregoriana in Rom / © Romano Siciliani (KNA)
Die Päpstliche Universität Gregoriana in Rom / © Romano Siciliani ( KNA )
Quelle:
DR