Vor 60 Jahren wütet verheerende Sturmflut im Norden

Land unter und Hunderte Tote in Hamburg

In der Nacht zum 17. Februar 1962 fordert die schlimmste Sturmflut des 20. Jahrhunderts in Norddeutschland 340 Todesopfer. Besonders schwer trifft es Hamburg. Zwei Zeitzeugen erinnern sich.

Autor/in:
Michael Althaus
Sturmflut in Hamburg 1962 / © Gerd Herold (dpa)
Sturmflut in Hamburg 1962 / © Gerd Herold ( dpa )

Als Dieter Matuszczak am Abend des 16. Februar 1962 zu Bett geht, ahnt er noch nicht, was in dieser Nacht passieren wird.

Der Hamburger ist damals neun Jahre alt und lebt mit seiner Familie auf der Elbinsel Wilhelmsburg, rund 500 Meter vom Wasser entfernt.

Schon am Nachmittag hat es gestürmt und gehagelt, aber dabei hat sich niemand etwas gedacht. Sturmflut-Warnungen im Rundfunk hat die Familie nicht wahrgenommen. Und so wird sie – wie die meisten Menschen – von der Katastrophe überrascht.

Deiche brechen

In der Nacht stürmt "Vincinette" (die Siegreiche) über Norddeutschland und bringt eine schwere Sturmflut mit sich. Besonders schlimm trifft es Hamburg. Zahlreiche Deiche brechen, das Wasser überflutet ein Fünftel des Stadtgebiets. Viele Menschen ertrinken.

Boote retten Hamburger aus ihren Häusern / © KNA-Bild (KNA)
Boote retten Hamburger aus ihren Häusern / © KNA-Bild ( KNA )

Die Stadt fühlte sich sicher, denn nach der letzten großen Katastrophe 1825 waren die Deiche auf bis zu 5,20 Meter erhöht worden. Doch diesmal läuft das Hochwasser auf 5,70 Meter auf. Im Laufe der Nacht brechen die Dämme an mehr als 60 Stellen. Besonders schwer trifft es die niedrig gelegenen Stadtteile wie Wilhelmsburg.

Aber auch Teile der Innenstadt stehen unter Wasser. In vielen Vierteln bricht das Stromnetz zusammen. Die Telefone fallen aus.

Helmut Schmidt überschreitet Kompetenz

Matuszczak wird nachts von seiner Mutter geweckt. "Als ich aus dem Fenster sah, habe ich einen riesigen Schrecken bekommen", erinnert er sich. Die Straße vor dem Haus hatte sich in einen reißenden Fluss verwandelt. "Alles Mögliche trieb vorbei – Autos, Gartenlauben, Baumstämme." Der Junge hat Angst. Zwar lebt die Familie im dritten Stock, allerdings droht am Haus eine tragende Mauer wegzubrechen.

Eltern, Großmutter und der Sohn retten sich in die Wohnung von Bekannten auf der gegenüberliegenden Straßenseite.

Viele andere Menschen sitzen bei eisigen Temperaturen auf den Dächern ihrer Häuser fest. Rettungsdienste, die Bundeswehr und das Technische Hilfswerk sind im Einsatz. Doch die Koordination ist schlecht. Erst bei Tagesanbruch erfährt Helmut Schmidt, damals Senator der Hamburger Polizeibehörde, was los ist. Der SPD-Politiker fordert zusätzlich Soldaten der Nato an. Ein Schritt, zu dem er verfassungsrechtlich gar nicht befugt ist, für den der spätere Bundeskanzler aber viel Anerkennung bekommen soll.

"Schlauchboote der Bundeswehr und Hubschrauber waren unterwegs", beschreibt Matuszczaks Schwester, Christa Marienfeld, die Situation am Morgen des 17. Februar. Sie ist damals 23 Jahre alt. Gemeinsam mit ihrem Mann kämpft sie sich durch die Fluten, rettet eine Cousine mit kleinem Kind und versorgt die Eltern notdürftig mit Lebensmitteln.

Christa Marienfeld, damals 23 Jahre alt:

Das Wasser stand uns bis zum Bauch.

"Das Wasser stand uns bis zum Bauch", erzählt sie. Das Bild einer Frauenleiche wird sie nicht mehr los: "Die hing ausgestreckt wie ein Andreaskreuz in einem Baum."

340 Todesopfer, 10.000 unbewohnbare Wohnungen

Insgesamt sterben in dieser Nacht 340 Menschen, 315 davon in Hamburg.

Über 10.000 Wohnungen sind monatelang unbewohnbar und die Menschen obdachlos. Marienfeld erfährt erst nach einigen Tagen, dass auch ihr Großonkel und ihre Großtante in den Fluten ertrunken sind. "Es war grauenhaft."

Notunterkunft in Hamburg, 1962 / © KNA-Bild (KNA)
Notunterkunft in Hamburg, 1962 / © KNA-Bild ( KNA )

Zugleich loben sie und ihr Bruder die große Hilfsbereitschaft, die in den kommenden Tagen und Wochen einsetzt. Essensausgaben, Notunterkünfte seien eingerichtet worden. Verwandte hätten einen Sack Kartoffeln vorbeigebracht. "Sogar aus Griechenland wurden Korinthen geschickt", erinnert sich Matuszczak.

Deiche werden überall erhöht

Zehn Tage nach der Katastrophe gedenkt Hamburg der Toten. Zwischen 16.45 und 17 Uhr läuten alle Kirchenglocken der Stadt, das öffentliche Leben steht still. Zur Trauerfeier mit Bundespräsident Heinrich Lübke auf dem Rathausmarkt kommen geschätzt 150.000 Menschen.

Infolge der Sturmflut werden in ganz Norddeutschland die Deiche erhöht und Sperrwerke gebaut. Auch der Katastrophenschutz wird verbessert. Bei der nächsten großen Sturmflut 1976 steht das Wasser 75 Zentimeter höher als 1962, aber es gibt keine Toten mehr.

Trauerfeier für die Opfer der Sturmflut auf dem Hamburger Rathausplatz / © KNA-Bild (KNA)
Trauerfeier für die Opfer der Sturmflut auf dem Hamburger Rathausplatz / © KNA-Bild ( KNA )

Das Hochwasser in Westdeutschland im Sommer vergangenen Jahres rief in Matuszczak und Marienfeld die Erinnerungen an die große Katastrophe wieder wach. Dennoch sind die Geschwister zuversichtlich, dass sich im Norden eine Ereignis wie damals nicht so bald wiederholt.

Quelle:
KNA
Mehr zum Thema