Vatikanexperte Politi kritisiert Benedikt-Verteidiger

"Ratzinger weiß, was er tut"

Der emeritierte Papst Benedikt XVI. steht in der Kritik wegen seines Verhaltens nach dem Münchner Missbrauchsgutachten. Sind vielleicht doch die Berater daran schuld? Kann Benedikt mit 94 Jahren überhaupt wissen, was er sagt?

Erzbischof Georg Gänswein und der emeritierte Papst Benedikt XVI. im Juni 2020 / © Sven Hoppe/dpa/Pool (KNA)
Erzbischof Georg Gänswein und der emeritierte Papst Benedikt XVI. im Juni 2020 / © Sven Hoppe/dpa/Pool ( KNA )

DOMRADIO.DE: Wenn Bischof Bätzing sagt, der emeritierte Papst Benedikt XVI. solle sich über seine Berater hinwegsetzen, wen meint er dann? Sind das seine engsten Vertrauten? Privatsekretär Erzbischof Gänswein?

Marco Politi (Journalist und Vatikanexperte): Ganz bestimmt sind es die engsten Vertrauten. Aber ich würde nicht immer die Schuld auf seine Entourage schieben. Ratzinger ist zwar alt, aber er denkt klar. Deswegen ist es auch eine persönliche Entscheidung, wie er sich in dieser ganzen Geschichte verhält.

Dieser ganze Skandal ist auch von Rom gesehen interessant, denn er zeigt, warum Papst Franziskus wollte, dass Kardinal Marx weitermacht. Kardinal Marx hat ganz bestimmt Fehler gemacht. Er hat sie aber eingesehen. Er hat sich entschuldigt. Und vor allem: Kardinal Marx garantiert eine große Aufklärungsaktion. Er war der erste Vorsitzende einer Bischofskonferenz, der eine unabhängige nationale Untersuchung gestartet hat. Und er ist der erste Erzbischof von München, der dieses Gutachten gewollt hat.

DOMRADIO.DE: Welche Rolle spielen denn die "Berater" für Benedikt XVI. zum Beispiel bei seinem 82-seitigen Statement für das Münchner Missbrauchsgutachten, das im Nachhinein an einer Stelle berichtigt werden musste?

Vatikanjournalist Marco Politi (KNA)
Vatikanjournalist Marco Politi / ( KNA )

Politi: Wir können nicht wissen, wie viel er selber geschrieben hat und was von seinen Beratern kommt, zum Beispiel Erzbischof Gänswein. Aber in den entscheidenden Punkten weiß Ratzinger, was er tut. Wir dürfen nicht vergessen zum Beispiel: Nach der Amazonas-Synode hat er bewusst an einem Buch von Kardinal Sarah mitgearbeitet, um zu sagen: Man muss den Zölibat nicht antasten. Später hat man gesagt, er wusste nicht, was er da tut. Er wollte nur einen Beitrag für das Buch schreiben. Aber es war ganz klar eine politische Aktion, eine kirchenpolitische Aktion gegen eine Entscheidung, die Papst Franziskus treffen sollte.

Deswegen bin ich der Meinung, alles das, was er bis jetzt in dieser Sache über München geschrieben hat, ist in letzter Instanz seine persönliche Entscheidung. Auch seine Fehler, er hat sich schon einmal korrigieren müssen. Und ganz bestimmt hat Bischof Bätzing recht, wenn er sagt, er muss jetzt den Mut haben zu sagen: Ich nehme die ganze Verantwortung auf mich.

DOMRADIO.DE: Er hat sich entschuldigt für diesen Fehler, dass er behauptet hat, er sei bei einer wichtigen Konferenz nicht dabei gewesen. Aber er hat sich nicht entschuldigt für das Leid im Erzbistum München, für das er ja - so sagt das Gutachten - mitverantwortlich ist. Glauben Sie, da kommt noch was in der Richtung?

Politi: Ganz bestimmt Ratzinger wird noch Stellung nehmen in Bezug auf das ganze Dokument des Gutachtens. Dieses Dokument ist verheerend, denn es zeigt eine große Schlamperei bei den Missbrauchsfällen in der Diözese. Man weiß nicht, wo die Schlamperei aufhört und wo die Vertuschung anfängt. Aber auf jeden Fall ist es nicht möglich, dass Ratzinger systematisch sagt: Ich wusste nichts. Diese Position ist meiner Meinung nach nicht haltbar.

Es ist interessant, dass Ratzinger überhaupt den Gutachtern geantwortet hat. Das konnte man nicht vorhersehen. In alten Zeiten hätte es einfach ein Kommuniqué gegeben: Nein, das ist nicht wahr.

DOMRADIO.DE: Explizit ist ja nun klar, dass sich ein emeritierter Papst eines falschen Statements schuldig gemacht hat. Schmälert das die Päpstliche Unfehlbarkeit?

Politi: Nein, überhaupt nicht. Denn er ist nicht Papst. Der Titel “Papst Emeritus” ist irreführend. Es gibt schon Stimmen im Vatikan, in der Kurie, die sagen: In Zukunft muss man diesen Titel weglassen. Es hat nie so etwas gegeben. Es hat schon oft Päpste gegeben, die abgedankt haben oder gezwungen worden sind abzudanken. Aber es gab nie den Titel eines "Papstes Emeritus". Ratzinger ist nicht Papst, in keiner Weise. Und auch die Unfehlbarkeit des Papstes wird heute in einer sehr engen Dimension gesehen. Es müsste so sein, dass er das "ex cathedra", vom Lehrstuhl proklamiert und das gab es schon seit Jahrzehnten nicht mehr.

Marco Politi

"Ratzinger ist nicht Papst, in keiner Weise."

DOMRADIO.DE: Der Vatikanexperte Andreas Englisch vermutet jetzt, dass reaktionäre Kreise immer noch versuchen zu retten, was zu retten ist, aber dass die konservative Front momentan sehr schlecht dasteht und die "Ratzinger-Kirche" in sich kollabiert sei. Wie sehen Sie das?

Politi: Ganz bestimmt. Die konservativen Kräfte versuchen zu sagen, dass das eine Aktion ist, um den Ruf Ratzingers zu schädigen. Kardinal Müller hat gesagt: Es ist ein Angriff auf Ratzinger. Bischof Camisasca hat gesagt: Das ist ein Manöver gegen Ratzinger. Aber das ist nicht wahr, denn das Gutachten nimmt das unter die Lupe, was die Erzbischöfe in München-Freising getan haben, die aus verschiedenen kirchenpolitischen Richtungen kamen. Kardinal Döpfner ist ein großer Protagonist des Zweiten Vatikanischen Konzils. Wetter ist eine Persönlichkeit, die mehr moderat ist. Man kann nicht sagen, dass die Gutachter kirchenpolitisch auf einer Seite stehen. Das ist absolut nicht wahr.

Ich würde aber sagen, das Problem heute ist die Weltkirche. Es gibt wenige Bischofskonferenzen, die den Mut haben, Aufklärung zu leisten. Da ist ganz bestimmt die Deutsche Bischofskonferenz an der Spitze. Manchmal will man das nicht wahrhaben in Deutschland. Aber die deutschen Katholiken, die deutsche katholische Kirche ist in der Aufklärungsarbeit an der Vorderfront.

Mehr als 90 Prozent der Bischofskonferenzen in der ganzen Welt haben keine Lust, diese Aufklärungsarbeit zu leisten. Ich würde nicht sagen, dass das Ratzinger-System jetzt zu einem Kollaps gekommen ist, denn das System der Passivität und des Nicht-Wissen-Wollens ist noch immer sehr stark in der großen Mehrheit der Diözesen und der Bischofskonferenzen auf der ganzen Welt. In Italien diskutiert man immer noch: Soll es Studien geben oder nicht? Man diskutiert seit zehn Jahren darüber.

DOMRADIO.DE: Welche Rolle spielt da Papst Franziskus?

Politi: Franziskus hat ganz klar gesagt: Was soll die Richtung sein? Schon Ratzinger hat angefangen, gegen Missbrauch klare Richtlinien zu verlangen. Und er hat - das ist dokumentiert - mehr als 400 Priester wegen Missbrauchs aus ihrem Amt entfernt. Franziskus ist einen Schritt weitergegangen. Er hat einen Kardinal zum Beispiel, McCarrick, aus dem Kardinalskollegium entfernt und hat ihm auch einen kanonischen Prozess gemacht und aus dem Priesterstand ausgestoßen. Franziskus hat einem Nuntius, einem Erzbischof, dem Nuntius von Santo Domingo, den Prozess gemacht und ihn aus dem Priesterstand ausgestoßen.

Und vor allem: Franziskus hat das getan, was Johannes Paul II. verhindert hat, als in Boston Kardinal Law unter Beschuss gekommen ist, weil es großen Verdacht und auch die Tatsache gab, dass viele Missbrauchsfälle vertuscht worden waren. Da hatte Johannes Paul II. den Kardinal nach Rom berufen und hat ihm hier einen Ehrentitel in der Basilika von Santa Maria Maggiore gegeben, damit man ihm nicht in Amerika den Prozess macht. Und gerade das Gegenteil hat Franziskus getan, als man in Australien Kardinal Pell den Prozess machen wollte und gemacht hat - bevor er doch freigesprochen wurde - , hat Franziskus Kardinal Pell nach Australien geschickt und nicht beschützt.

Das Interview führte Uta Vorbrodt.

Das Pontifikat von Papst Benedikt XVI.

"Professor Papst" nannte man ihn: weil seine Ansprachen vor der UNO, im Berliner Reichstag oder im britischen Parlament anspruchsvoll wie Vorlesungen waren. Seine Brillanz veranlasste den Kölner Kardinal Josef Frings, den gerade 35-Jährigen zu seinem Berater beim Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) zu machen. Dem Abschnitt als Erzbischof von München und Freising (1977-1982) folgte seine jahrzehntelange Bestimmung: als Präfekt der römischen Glaubenskongregation. Am Ende zeigte sich Ratzinger amtsmüde, doch Johannes Paul II. überredete ihn zu bleiben.

Joseph Kardinal Ratzinger wurde am 19. April 2005 vom Konklave zum neuen Papst Benedikt XVI. gewählt (KNA)
Joseph Kardinal Ratzinger wurde am 19. April 2005 vom Konklave zum neuen Papst Benedikt XVI. gewählt / ( KNA )
Quelle:
DR
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