DOMRADIO.DE: Auch wenn es mit der Umsetzung aktuell hapert, sind sich nicht alle Menschen auf der Welt einig, dass die Würde des Menschen selbstverständlich und unantastbar ist?
Prof. Ingeborg Gabriel (Professorin am Institut für Systematische Theologie und Ethik der Universität Wien): Ich bin nicht so sicher, dass dieses Konzept immer und überall universal da war und ist. Es wird heute vielfach auch in Frage gestellt. Wir haben im europäischen Raum zwei Wurzeln der Menschenwürde, die zusammenspielen. Die eine stammt aus der christlichen, jüdischen Offenbarung. Die andere aus der Philosophie. Die Menschenwürde ist heute nicht nur das praktische, sondern auch das theoretische Konzept.
DOMRADIO.DE: Wodurch wird das Konzept der Menschenwürde denn bedroht?
Gabriel: Ich glaube, dass evolutionistische Strömungen, die den Menschen jede Sonderstellung im Universum absprechen, ebenso wie jene, die ihn in der Entwicklung als Übermenschen sehen, heute im öffentlichen Bewusstsein stark verankert sind. Wer ist der Mensch eigentlich, dass er eine solche Sonderstellungen in der Welt einnehmen will? Lässt sich das angesichts der menschlichen Existenz in einem praktisch in Expansion befindlichen Universum überhaupt noch begründen? Da kommt Menschenwürde auch theoretisch unter Druck.
Die andere Schiene ist natürlich die, die sich heute gegen einen menschenrechtlichen Universalismus richtet und behauptet, dass die nationalen, kulturellen und religiösen Zugehörigkeiten prioritär der Menschenwürde übergeordnet sind. Das sind die Identitätsdiskurse, die wir heute auf allen möglichen Ebenen führen und die sich gleichfalls gegen das universale Konzept der Menschenwürde richten – sei es rechtlich verstanden, oder auch moralisch.
DOMRADIO.DE: Was zeichnet den Menschen denn ganz grundsätzlich aus? Inwieweit hat er eine andere Würde als das Tier, und wie begründet er sie?
Gabriel: Er begründet sie auf den zwei eben angesprochenen Wurzeln: Das ist auf der einen Seite die Überzeugung der Gottesebenbildlichkeit. Auf der anderen Seite steht die Kant'sche Version, dass der Mensch eine Würde hat und nicht nur einen ökonomischen Wert, den ich relativieren kann. Er ist Zweck in sich. Diese zwei Begründungsmodelle verschränken sich in unserer Kultur. Sie sind in den Menschenrechten auch rechtlich fixiert, sei es im deutschen Grundgesetz, das mit der Menschenwürde beginnt, aber auch in der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die von einer angeborenen Würde ausgeht.
Letztlich handelt es sich dabei um Glaubenssätze, das muss man ganz klar sagen. Diese bilden aber nicht nur die Grundlage unserer Kultur, sondern, bis zu einem gewissen Grad, jeder Kultur. Denn wenn ich den Menschen nicht mehr als ein mit Verantwortung und Freiheit begabtes Lebewesen sehe, dann kann ich ihn auch nicht mehr rechtlich sanktionieren. Ich kann ihm nichts mehr vorwerfen. Das heißt, das Recht und die Moral stehen auf der Basis der Menschenrechte.
DOMRADIO.DE: Wenn aber zum Beispiel Krieg herrscht, zählt die Menschenwürde dann gar nichts mehr?
Gabriel: Mann muss zwischen einer theoretischen Annahme der Menschenwürde und ihrer praktischen Verwirklichung unterscheiden. Praktisch wird sie natürlich massivst und brutalst und in vielfältigsten Formen verletzt. Der Krieg ist die schwerste Verletzung von Menschenwürde.
Und wenn wir uns – was wir im Alltag schon mehr oder weniger ausblenden – vor Augen führen, dass in der Ukraine in den letzten drei Jahren eine Million Menschen getötet, verstümmelt und traumatisiert wurden, dann sollte uns das innerlich berühren und bis in die Knochen fahren. Und das ist nur eines der vielfältigen Beispiele für massivste Menschenrechtsverletzungen, wie wir sie heute im Nahen Osten, im Sudan und an vielen anderen Orten der Welt sehen.
Der Krieg ist sicherlich die schwerste Menschenrechtsverletzung, die es gibt. Und nicht umsonst ist die allgemeine Erklärung der Menschenrechte aus diesen Akten der Barbarei, wie es dort heißt, entstanden. Es muss uns zutiefst beunruhigen, dass sie gegenwärtig immer mehr zur Seite geschoben werden und die Weltordnung, die darauf aufgebaut war, in die Brüche geht.
DOMRADIO.DE: Welche Rolle können die Kirchen spielen, wenn es um die Menschenwürde geht?
Gabriel: Die Kirchen spielen eine zentrale Rolle. Die katholische Kirche, das muss einmal gesagt werden, hat 1,4 Milliarden Mitglieder. Wenn jedes dieser Mitglieder ein wenig zur Unterstützung der Würde anderer Menschen beiträgt, ist unglaublich viel geschehen; das hat eine Stoßkraft. Und diese Stoßkraft existiert in vielerlei Weise.
Die Initiativen auch gegen den Krieg, für Kriegsopfer in der Ukraine und ähnliches mehr, sind mehr, als wir in der Öffentlichkeit normalerweise sehen. Ich bin dankbar, wenn wir hier über diese Fragen sprechen, denn wir sprechen in der katholischen Kirche zu wenig von dem, was auch die Kirchen tun und tun können. Wir müssen in der gegenwärtigen Situation etwas lauter werden.
Das Interview führte Johannes Schröer.