Psychiater warnt vor Änderungen bei Strafmündigkeitsalter

"Reifungsprozess noch nicht abgeschlossen"

Sollte das Alter für Strafmündigkeit herabgesetzt werden? Darüber wird nach dem Fall der getöteten Luise diskutiert, die mutmaßlichen Täterinnen sind noch strafunmündig. Psychiater Harald Dreßing hält einen solchen Schritt für falsch.

Trauer um Luise / © Roberto Pfeil (dpa)
Trauer um Luise / © Roberto Pfeil ( dpa )

DOMRADIO.DE: Sollte das Alter für Strafmündigkeit herabgesetzt werden. Das ist die Frage, die jetzt diskutiert wird. Ein Argument dafür lautet, dass Kinder heute weiter entwickelt sind als damals. Ist das so? Sind sie weiterentwickelt?

Prof. Dreßing / © Dedert (dpa)
Prof. Dreßing / © Dedert ( dpa )

Prof. Dr. Harald Dreßing (Psychiater, Psychotherapeut und Gutachter): Ich habe eine klare Position dazu. Ich denke, dass Strafmündigkeitsalter sollte nicht herabgesetzt werden. Wir wissen aus der neurobiologischen Forschung, dass die Gehirne von jungen Menschen sogar noch über das 14. Lebensjahr hinaus reifen. Vor dem 14. Lebensjahr ist dieser Reifungsprozess, insbesondere in den Hirnregionen, die für Handlungsplanung, Handlungssteuerung und auch für moralische Instanzen bedeutsam sind, noch keineswegs abgeschlossen. Deswegen, denke ich, wäre eine Herabsetzung der Strafmündigkeitsalters nicht angezeigt.

DOMRADIO.DE: Welche Funktion haben denn Strafen überhaupt?

Professor Dr. Harald Dreßing, Psychiater, Psychotherapeut und Gutachter

"Vor dem 14. Lebensjahr ist dieser Reifungsprozess, insbesondere in den Hirnregionen, die für Handlungsplanung, Handlungssteuerung und auch für moralische Instanzen bedeutsam sind, noch keineswegs abgeschlossen."

Dreßing: Man spricht einmal von einer generalpräventiven Wirkung, also dass jemand weiß: Wenn ich eine bestimmte Straftat begehe, werde ich bestraft. Außerdem spricht man von einer spezialpräventiven Wirkung für den Einzelfall. Insgesamt darf man nicht davon ausgehen, dass eine niedrigeres Strafmündigkeitsalter die in Rede stehende Tat vereitelt hätte.

Freudenbergs Bürgermeisterin kritisiert Medien

Nach dem gewaltsamen Tod der zwölfjährigen Luise aus Freudenberg hat die örtliche Bürgermeisterin Nicole Reschke die Berichterstattung einiger Medien kritisiert. Der Wochenzeitung "Die Zeit" sagte Reschke, es habe «viele seriöse Berichte gegeben, sachlich und fundiert». Doch einige Male seien "Grenzen weit überschritten worden".

Ein Kondolenzbuch zum Gedenken an das getötete Mädchen liegt neben Blumen und Kerzen in einer Kirche aus. / © Oliver Berg (dpa)
Ein Kondolenzbuch zum Gedenken an das getötete Mädchen liegt neben Blumen und Kerzen in einer Kirche aus. / © Oliver Berg ( dpa )

DOMRADIO.DE: Es gibt nach so einer Tat häufig Rufe nach Rache und Vergeltung. Was bedeutet das denn aus psychologischer Sicht?

Dreßing: Das ist für die Hinterbliebenen natürlich eine traumatische Situation, eine ganz schlimme Situation - sowohl für die Eltern der beschuldigten Täterinnen als auch für die Eltern des Opfers. Gefühle wie Rache und Vergeltung sind nachvollziehbare menschliche Emotionen. Wir leben in einem Rechtsstaat, wo glücklicherweise Rache und Vergeltung nicht ausgeübt werden, sondern die Beschuldigten nach einem Rechtssystem behandelt werden.

Und es ist eben so, dass die Kinder strafunmündig sind. Das bedeutet aber nicht, dass mit den Kindern nichts geschieht. Normalerweise kommen strafunmündige Kinder in betreute Einrichtungen, möglicherweise auch in geschlossene Einrichtungen, wo intensiv mit ihnen gearbeitet wird, um die Tat selbst für sie zu verarbeiten und natürlich auch präventiv zu arbeiten, damit keine weitere Gewalt mehr von ihnen ausgehen wird.

DOMRADIO.DE: Es gibt die christliche Perspektive von Vergebung und Barmherzigkeit. Was können Vergebung und Barmherzigkeit denn im Menschen bewirken?

Dreßing: Das könnte ein Aspekt in einer langwierigen Aufarbeitung sein. Ich denke, das jetzt von den Eltern des getöteten Mädchens zu fordern, wäre sicherlich viel zu weit gegriffen. Am Ende eines langen Verarbeitungsprozesses können unter Umständen solche Emotionen wie Vergebung stehen. Das ist aber eher ein Endpunkt einer Aufarbeitung denn ein Anfangspunkt.

Professor Dr. Harald Dreßing, Psychiater, Psychotherapeut und Gutachter

"Man muss sich um diese Eltern kümmern. Man muss ihnen wirklich professionelle Hilfe anbieten."

DOMRADIO.DE: Was hilft denn den Eltern des getöteten Mädchens, abgesehen von Bestrafung der mutmaßlichen Täterinnen oder Rache und Vergeltung?

Dreßing: Die Bestrafung hilft den Eltern zunächst mal nicht. Wichtig ist, dass die wissen, dass von den Täterinnen keine weitere Gefahr ausgeht.

Und man muss sich um diese Eltern kümmern. Man muss ihnen professionelle Hilfe anbieten. Die Wahrscheinlichkeit, dass da auch psychische Störungen entstehen - posttraumatische Belastungsstörungen, Depressionen - sind sehr hoch. Deswegen ist eine professionelle Begleitung zwingend notwendig.

Das Interview führte Tobias Fricke.

Quelle:
DR