Psychiater spricht über den bayerischen "Hungerkosterlass"

"Nur ganz selten Widerstand"

Der bayerische "Hungerkosterlass" vom 30. November 1942 markiert den Beginn der zweiten Phase der NS-Patientenmorde. Der ehemaligen Direktor des Bezirkskrankenhauses in Kaufbeuren setzt sich für eine angemessene Aufarbeitung ein.

Michael von Cranach, Psychiater und ehemaliger Direktor des Bezirkskrankenhauses Kaufbeuren, liest in Akten der "Kreis-Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee" / © Christopher Beschnitt (KNA)
Michael von Cranach, Psychiater und ehemaliger Direktor des Bezirkskrankenhauses Kaufbeuren, liest in Akten der "Kreis-Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee" / © Christopher Beschnitt ( KNA )

KNA: Was wussten Sie über die Rolle der deutschen Heil- und Pflegeanstalten in der Nazizeit, als Sie 1980 Ärztlicher Direktor in Kaufbeuren wurden?

Michael von Cranach, Psychiater und ehemaliger Direktor des Bezirkskrankenhauses Kaufbeuren, am 21. November 2022 in seinem Arbeitszimmer in Eggenthal. / © Christopher Beschnitt (KNA)
Michael von Cranach, Psychiater und ehemaliger Direktor des Bezirkskrankenhauses Kaufbeuren, am 21. November 2022 in seinem Arbeitszimmer in Eggenthal. / © Christopher Beschnitt ( KNA )

Michael von Cranach (Psychiater und Ehemaliger Direktor des Bezirkskrankenhauses in Kaufbeuren): Kaum etwas. Nur grob war mir bekannt, dass Patienten in der Nazizeit ermordet wurden, doch das stand in keinem Psychiatrie-Lehrbuch. Die ganze Geschichte wurde völlig verdrängt und verleugnet. Überhaupt nicht wusste ich, dass Kaufbeuren eine der ganz schwierigen Kliniken gewesen war.

KNA: Einer Ihrer Vorgänger dort war eine Schlüsselfigur. Was war er für ein Mensch?

Cranach: Valentin Faltlhauser, und das ist aus heutiger Sicht beunruhigend, war ein äußerst kluger, ehrgeiziger und engagierter Psychiater aus einem christlichen Elternhaus. In Erlangen hatte er seinen Facharzt gemacht. Dort war in den 1920er Jahren eine Reformbewegung entstanden. Ihr ging es darum, die Patienten nicht über lange Zeit in großen Anstalten unterzubringen, sondern sie zuhause zu behandeln. Ihre Ergebnisse waren eindrucksvoll. Faltlhauser war einer ihrer Pioniere.

Michael von Cranach, ehemaliger Direktor des Bezirkskrankenhauses Kaufbeuren

"Die ganze Geschichte wurde völlig verdrängt und verleugnet."

KNA: Das klingt nicht so, als ob er ein Unmensch gewesen wäre.

Cranach: Ganz und gar nicht. Doch als er 1929 nach Kaufbeuren kam und seine Reformideen modellhaft umsetzen wollte, stieß er auf politische Widerstände. Das frustrierte ihn. Wegen seiner anfangs ablehnenden Haltung zur Zwangssterilisation psychisch Kranker geriet er in eine Außenseiterrolle. Auch in der seit den 1920er Jahren von Psychiatern geführten Debatte über die Vernichtung sogenannten lebensunwerten Lebens positionierte er sich zunächst kritisch. Psychisch Kranke zu töten, hielt er da noch für ethisch unvertretbar. Er war bei den letzten, die 1939 nach Hitlers Euthanasie-Erlass auf den Zug aufsprangen. Dann aber wütete er schlimmer als andere.

KNA: Der berüchtigte "Hungerkosterlass" vom 30. November 1942 geht auf seine Idee zurück.

Cranach: Ja. Faltlhauser experimentierte in seiner Klinik mit einer Diät. Die bestand eigentlich nur darin, Gemüse in Wasser zu kochen, ohne Zugabe von Eiweiß oder Fett. Diese Kost führte dazu, dass Patienten jede Woche mehrere Kilogramm Gewicht verloren und in der Regel in den nächsten drei Monaten starben, nicht direkt an Hunger, sondern anderen Krankheiten: Durchfall, Lungenentzündung oder Tuberkulose. Faltlhauser referierte darüber vor seinen bayerischen Kollegen, zwei Wochen vor dem "Hungerkosterlass". Die Anordnung richtete sich an die bayerischen Kliniken, aber auch viele andere Einrichtungen im Reich übernahmen diese Praxis.

KNA: Mit welchen Folgen?

Cranach: Ungefähr 140.000 bis 150.000 Menschen sind aufgrund dieser gezielten Mangelernährung gestorben.

KNA: Ermordeten die Nazis Patienten zuvor in speziellen Tötungsanstalten, verlagerten sich die Verbrechen nun in alle Kliniken. Wurden damit nicht auch alle Beschäftigten dort zu Komplizen?

Cranach: Natürlich. In einer Teilanstalt von Kaufbeuren, in Irsee, führten Ordensschwestern die Küche. In ihrem Tagebuch kann man nachlesen, wie sie ab und zu versuchten, der Suppe etwas Fett beizugeben. Aber dann sei der Verwaltungsleiter vorbeigekommen und habe fürchterlich geschimpft. Sie haben das für Widerstand gehalten, letztlich waren sie ungewollt auch beteiligt an der Mordmaschinerie.

KNA: Gab es keinen Widerstand?

Cranach: Nur ganz selten. Was es gab: dass Ärzte und Krankenschwestern kündigten.

KNA: Was passierte nach Kriegsende?

Cranach: In Kaufbeuren schenkten die US-Amerikaner dem psychiatrischen Krankenhaus in den ersten Wochen keine Beachtung. Erst als sie Hinweise auf schlimme Dinge dort erhielten, schickten sie Offiziere und einen Fotografen hin. In den Kellern fanden sie ganz viele Leichen von offensichtlich verhungerten Menschen. Das letzte Kind war sechs Wochen nach dem Krieg ermordet worden. Das heißt: Sie haben dort einfach weitergemacht.

Michael von Cranach, ehemaliger Direktor des Bezirkskrankenhauses Kaufbeuren

"Die Opfer müssen aus der Vergessenheit geholt werden, zurück in das kollektive Gedächtnis der Gesellschaft, aber auch der einzelnen Familien."

KNA: Es gab einige Prozesse. Wie verhielten sich die Beteiligten an den Patientenmorden vor Gericht?

Cranach: Das ist unglaublich. Das Pflegepersonal gab alles zu, die wussten auch über alles Bescheid. Nur die Ärzte behaupteten, sie hätten nichts mitgekriegt. Faltlhauser hat kooperiert und sogar selber Listen mit den Namen der Patienten geschrieben, deren Tötung er angeordnet oder selbst vorgenommen hatte. Er bekam drei Jahre Gefängnis, musste die Strafe aber nie antreten.

KNA: Wie ging es weiter?

Cranach: Die intensiven Recherchen der Alliierten fanden bis Ende der 1940er Jahre ihren Weg in Zeitungen in aller Welt. In Deutschland wurden die Verbrechen bis in die 1970er Jahre hinein beschwiegen. Bisweilen fragten Angehörige bei den Bezirkskliniken zaghaft nach, was mit ihrer Mutter, ihrem Bruder passiert sei; man habe gehört, dass Patienten ermordet wurden. Darauf bekamen sie durchgängig arrogante Antwortbriefe, in denen schon jeder Verdacht einer Beteiligung empört zurückgewiesen wurde.

KNA: Was bleibt zu tun, damit sich diese furchtbare Geschichte nicht wiederholt?

Cranach: Zwei Dinge sind ganz wichtig. Die Opfer müssen aus der Vergessenheit geholt werden, zurück in das kollektive Gedächtnis der Gesellschaft, aber auch der einzelnen Familien. Gott sei Dank haben wir erreicht, dass das Archivgesetz nicht länger so ausgelegt wird, dass eine öffentliche Nennung der Namen ermordeter psychisch Kranker unter Verweis auf den Persönlichkeitsschutz der Nachfahren untersagt wird. In vielen Orten haben sich lokale Gedenkinitiativen gebildet, Angehörige schließen sich zusammen, es erscheinen Bücher mit Biografien.

KNA: Und das Zweite?

Cranach: Es konnte nur passieren, weil damals eine Überlegung gesellschaftsfähig war, nämlich, dass Menschen einen unterschiedlichen Wert haben. Deswegen müssen wir feinfühlig werden für jede Form von Diskriminierung. Menschen mit Behinderungen sollten nicht länger von ihren Defiziten her betrachtet werden. Behinderung ist ein Ausdruck der Vielfalt des Lebens. Das wird noch Jahrzehnte dauern, aber wir sind auf einem guten Weg.

Das Interview führte Christoph Renzikowski.

Quelle:
KNA