Prof. Wilhelm kritisiert AfD und warnt vor Antisemitismus

"Es ist die große Heuchelei, die diese Partei auszeichnet"

Am 9. November wird in Deutschland an die Opfer der Reichspogromnacht von 1938 gedacht. Professor Jürgen Wilhelm, Vorsitzender der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Köln, betont, wie wichtig die Erinnerung ist.

Fensterrosette und Menora in der Synagoge der Synagogen-Gemeinde Köln / © Julia Steinbrecht (KNA)
Fensterrosette und Menora in der Synagoge der Synagogen-Gemeinde Köln / © Julia Steinbrecht ( KNA )

DOMRADIO.DE: Was genau ist Ihnen am 9. November wichtig?

Prof. Dr. Jürgen Wilhelm, Vorsitzender der Kölnischen Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit e.V. (Kölnische Gesellschaft)
Prof. Dr. Jürgen Wilhelm, Vorsitzender der Kölnischen Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit e.V. / ( Kölnische Gesellschaft )

Prof. Jürgen Wilhelm (Vorstandsvorsitzender der Kölnischen Gesellschaft für christlich jüdische Zusammenarbeit): Wir versuchen stets aus der Erinnerung und aus diesem geschichtsträchtigen Tag des 9. Novembers auch Konsequenzen für unser aktuelles Handeln in Politik und Gesellschaft zu ziehen. Und da werden wir zwei Schwerpunkte setzen: Einmal natürlich auf aktuelle Bedrohungen hinweisen, wie etwa die Documenta.

In diesem Jahr war die Diskussion über die AfD selbstverständlich, weil diese Partei permanent ihr Unwesen treibt. Auch schauen wir uns den Sport ein wenig näher an. Da gibt es ziemlich opportunistisches Verhalten während der Nazizeit, aber auch Hoffnung gerade in der jüngsten Zeit hier in Köln. Es gibt da auch Positives zu berichten.

DOMRADIO.DE: Beginnen wir vielleicht mal mit dem Thema Politik, gucken uns die aktuelle Situation in Deutschland an: Es gibt tatsächlich immer wieder Antisemitismus, Aussagen von Politikern der AfD. Für wie gefährlich halten Sie das denn?

Wilhelm: Das ist wirklich brandgefährlich, obgleich sie sich auch, anders als in anderen Ländern, noch nicht auf Bundesebene in komfortable Zonen des Mitsprechens und des Mitgestaltens haben katapultieren können, auf Länderebene ist es ja schon geschehen. So ist doch der rechtsradikale Populismus in der Tat, wie wir auch quantitativ sehen, in den letzten Jahren eine große Gefahr. Jens Spahn hat im Deutschen Bundestag die AfD im Zusammenhang mit Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine völlig zu Recht die fünfte Kolonne Moskaus genannt. Sie fahren ja auch immer wieder dorthin, werden eingeladen.

Es ist die große Heuchelei, die diese Partei auszeichnet, denn nichts von dem, was sie behauptet, und nichts von dem, was sie in Anspruch nimmt, angeblich etwas für die Menschen in Deutschland zu tun, stimmt auch mit ihrem tatsächlichen Handeln überein. Es stimmt gar nichts.

Das ist zudem ganz furchtbar, dass in den letzten Jahren festzustellen ist, dass sich Rechtsradikale und Neonazis mit linksextremen Positionen treffen. Sie sind dann vereint und gerade im Ukraine-Krieg jubeln sie dann Putin zu. Oder wenn sie das nicht tun, haben sie zumindest größtes Verständnis. Das ist im Hinblick auf den Antisemitismus wieder runtergebrochen in Deutschland, der immer wieder eine Rolle spielt bei den vielen Neonazis und Identitären und wie sie sich alle nennen. Das ist schon das aktuell politisch größte Risiko.

Koordinierungsrat für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit

Im Deutschen Koordinierungsrat der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit (DKR) sind mehr als 80 regionale Gruppen organisiert. Sie betrachten es als ihre Aufgabe, sich "für die Verständigung zwischen Christen und Juden, den Kampf gegen Antisemitismus und Rechtsradikalismus sowie für ein friedliches Zusammenleben der Völker und Religionen" einzusetzen. Sie "stellen sich der bleibenden Verantwortung angesichts der in Deutschland und Europa von Deutschen und in deutschem Namen betriebenen Vernichtung jüdischen Lebens".

Die christlich-jüdische Woche der Brüderlichkeit setzt seit Jahrzehnten ein Zeichen gegen Antisemitismus und Fremdenhass.  / © Tomas Moll (dpa)
Die christlich-jüdische Woche der Brüderlichkeit setzt seit Jahrzehnten ein Zeichen gegen Antisemitismus und Fremdenhass. / © Tomas Moll ( dpa )

DOMRADIO.DE: Und dann gibt es aber eben auch die Hoffnung, die Sie eben angesprochen haben. Wie sehr hat Sie es gefreut, dass gerade der 1. FC Köln, ich denke mal darauf wollen Sie hinaus, eine Kooperation mit der Synagogen-Gemeinde eingegangen ist?

Wilhelm: Ja, tatsächlich, das ist ein wirklich sehr schönes Zeichen des Präsidenten und des Vorstandes des 1. FC Köln. Denn auch der Sport war während der Nazizeit rasch gleichgeschaltet, aber auch nicht immer mit Zwang von oben, sondern auch mit fröhlicher Freiwilligkeit. Und diejenigen, die dann bis 1945 den Arm hochgerissen haben und freiwillig sogar Mitglied der NSDAP waren, waren dann am 9. Mai 1945 ja alle im Widerstand, wie wir wissen.

Das hat lange gedauert, bis sich die Fußball- und andere Sportvereine dieser Vergangenheit gewidmet haben und sie aufgearbeitet haben. Beim 1. FC Köln ist diese offene Kooperation und mit seinen über 100.000 Mitgliedern gigantisch wichtig in der gesamten Region. Das ist wirklich außerordentlich zu begrüßen. Da werden Vorurteile abgebaut, man verschafft Kenntnisse auf beiden Seiten und ich habe mich darüber sehr gefreut.

DOMRADIO.DE: Wie schwierig wird es allgemein für Sie, am 9. November diese Rede zu halten? Denn jeder Mensch, glaube ich, der sich mit diesem Thema 9. November 1938, der Pogromnacht, beschäftigt, jeder ist immer noch wieder fassungslos, wenn man darauf zurückblickt, dass die Mehrheitsgesellschaft den Juden zum Beispiel nicht geholfen hat, dass es sogar Schaulustige gab. Wie gehen Sie damit um?

Wilhelm: Ja, ich spreche es an, und ich bin selbst ja auch ein Nachkriegskind. Gelernt habe ich aus der Geschichte und meine, dass diese Verantwortung einfach vorangetragen werden muss, weil ohne dass wir uns ihr erinnern wir auch keine gute Zukunft haben können. Fassungslos bin ich dann, wenn ich diese Fotos immer noch sehe oder Berichte lese. Zum Beispiel Augenzeugenberichte, die wir erst letzte Woche anlässlich eines Konzerts in Groß Sankt Martin hier in Köln gehört haben.

Man hofft immer für sich selbst, dass man mutiger, tapferer gewesen wäre. Es war ja nicht völlig sanktionslos, wenn man sich gegen SA und Gestapo stellte. Das darf man nicht verkennen. Aber es gab eben auch die mutigen einzelnen Beispiele. Gott sei Dank waren es dann in der Summe doch einige 1000. Und das gibt mir doch irgendwie die Hoffnung, dass die Menschen heute nicht erneut, wie die Lemminge Menschen folgen, die wie AfD und andere Populisten ja nun nicht nur in Deutschland, sondern rund um den Erdball mittlerweile offensichtliche Lügen verbreiten und um für ihre merkwürdigen und zumeist auch sehr gefährlichen Ziele zu werben.

Das Interview führte Verena Tröster.

Novemberpogrome

Die Novemberpogrome 1938 – bezogen auf die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 auch (Reichs-)Kristallnacht oder Reichspogromnacht genannt – waren vom nationalsozialistischen Regime organisierte und gelenkte Gewaltmaßnahmen gegen Juden im gesamten Deutschen Reich.

Zerstörte Fenster der Kieler Synagoge nach der Reichspogromnacht (Foto von 1938) / © Stadtarchiv Kiel/Stadtarchiv_kiel (dpa)
Zerstörte Fenster der Kieler Synagoge nach der Reichspogromnacht (Foto von 1938) / © Stadtarchiv Kiel/Stadtarchiv_kiel ( dpa )

 

Quelle:
DR