DOMRADIO.DE: Papst Franziskus war Jesuit. Wie standen Sie zu ihm als Ordensbruder?

Pater Hans Zollner SJ (Institute of Anthropology. Interdisciplinary Studies on Human Dignity and Care (IADC) an der Päpstlichen Universität Gregoriana): Für uns Jesuiten war die Wahl von Papst Franziskus 2013 eine sehr große Überraschung. Es war noch nie ein Jesuit Papst gewesen. Das war eine ziemliche Umstellung. Vor allem auch deshalb, weil in den vorhergehenden Jahrzehnten bei vielen Jesuiten eine Distanz zur römischen Kurie und zur Leitung der Kirche gewachsen war, in gewissem Sinn ein Fremdeln. Dann plötzlich zu merken, dass der oberste Chef einer aus demselben Orden ist, das war für viele von uns eine ziemliche Herausforderung.
Als wir dann gemerkt haben, dass der Papst sehr offen auf den Ordensgeneral zuging und sich auch mit Worten und Begriffen aus unserer jesuitischen, ignatianischen Spiritualität an die Öffentlichkeit gerichtet hat, wie die Unterscheidung der Geister und Unterscheidungen in Gemeinschaft, wurde deutlich, dass das wirklich ein sehr gutes und fruchtbares Verhältnis werden kann. Er hat allerdings als Papst auch sehr viele andere Orden und Spiritualitäten wie die franziskanische mit bedacht. Nicht umsonst hat er ja diesen Namen ("Franziskus") für sich gewählt.
DOMRADIO.DE: Franziskus hat viele Ordensmenschen zu Kardinalen berufen und auch sein Verhältnis zur Kurie war manchmal mit Spannungen geladen. Ist das eine Erklärung dafür?
Zollner: Das Verhältnis zum römischen Apparat, zur Kurie war bei Franziskus von vornherein, als er Bischof in Buenos Aires geworden war, nicht so einfach. Er hat ja auch immer darauf bestanden, dass er sofort zurückreisen konnte, wenn er Termine in Rom hatte. Für ihn war es wichtiger, als Oberhirte seiner Diözese zu Hause zu sein als in den römischen Behörden vorstellig zu werden. Er hatte also auch einen gewissen anti-institutionellen Zug. Er hat sich da ferngehalten und hat auch den üblichen Abläufen dort seine eigene Note gegeben.
Warum er in den letzten zwölf Jahren sehr viele Ordensmänner zu Bischöfen gemacht hat, von denen einige auch zu Kardinalen wurden, hängt damit zusammen, dass er den Fokus vor allem bei den Kardinalsernennungen auf Länder im globalen Süden gelenkt hat. Dass er damit automatisch mehr Ordensleute zu Kardinälen machen musste, liegt daran, dass in den meisten dieser Länder – in Afrika, Asien und Ozeanien – viel mehr Ordensleute tätig sind als das in den sogenannten traditionellen christlichen Ländern der Fall ist, wo der Diözesanklerus viel stärker ist. Das sind auch tektonische Verschiebungen im globalen Katholizismus.
DOMRADIO.DE: Eine der größten Herausforderungen, die das Pontifikat von Papst Franziskus betroffen haben, war der Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche. Wie hat Papst Franziskus diese Herausforderung angenommen?
Zollner: Er hat sehr früh über das Thema gesprochen und es als eines der Themen im Rahmen seiner ersten Generalaudienz schon benannt. Er hat dann ein Jahr später mit der Schaffung der Päpstlichen Kinderschutzkommission ein starkes Zeichen gesetzt, indem er in der römischen Kurie auch ein solches Amt geschaffen hat und damit klarmachte, dass das nicht weggehen wird und es eine Verankerung auch in der zentralen Regierung der Kirche braucht.
Im Juli 2014, also kurz nachdem die Kommission gegründet war und wir neuen Mitglieder ihn gebeten hatten, dass er doch Missbrauchsbetroffene zu sich einlädt und ihnen zuhört, hat er das dann auch getan. Es wurden sechs Personen eingeladen und ich habe es da selbst aus erster Hand erlebt, dass er eine unglaubliche Gabe hatte, auf Menschen, die Leid in und durch die Kirche und ihre Verantwortlichen erlebt hatten, zuzugehen, ihnen wirklich zuzuhören und sich dem zu stellen, was diese Menschen ausdrücken wollten.
Menschen, die ihn auch angeschrien haben, die geweint haben, ihre Wut ausgedrückt haben, die ihre Enttäuschung deutlich gesagt haben, die hat er einfach angehört und ist bei ihnen geblieben, was sich in ihrem Schmerz abspielt.
DOMRADIO.DE: Es gab allerdings auch den Vorwurf, dass Franziskus selbst Fehler gemacht hat. Er hat Vorwürfe, die gegen einen Bischof erhoben worden waren, als Verleumdung zurückgewiesen, sich dann aber später dafür entschuldigt. Er hat dann auch den Missbrauchsgipfel im Vatikan mit initiiert. Hat Franziskus hier selbst ein Lernprozess durchlaufen müssen?
Zollner: Er hatte eine wirklich große Eigenschaft. Er hat sich den Fehlern, die er gemacht hat, auch gestellt. Und er hatte auch in diesem Fall zugestanden und um Entschuldigung gebeten, dass er sich da getäuscht hatte, dass er nämlich vermutlich Leuten, die ihm gesagt haben, dass das alles falsche Anschuldigungen seien, zunächst geglaubt hat.

Er hat dann aber damals Charles Scicluna, Erzbischof von Malta, nach Chile geschickt. Der kam mit einem 3.000 Seiten langen Bericht zurück, den der Papst studiert und sich dann eben eines Besseren besonnen hat. Er hat zugegeben, dass er sich getäuscht hat und hat dann auch deutliche Konsequenzen sowohl in Chile gefordert, auch von den Bischöfen, als er auch auf die Idee kam, einen Kinderschutzgipfel im Februar 2019 durchzuführen.
DOMRADIO.DE: Sexualisierte Gewalt betrifft nicht nur Minderjährige oder Kinder, sondern es gibt sie auch in Orden und auch gegenüber Erwachsenen. Wie groß, wie umfangreich ist dieses Thema und was wünschen Sie sich von der Leitung der katholischen Kirche in Zukunft?
Zollner: Als 2014 die Kommission eingerichtet wurde, war der Fokus sehr stark auf sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. Das hat sich erst 2017 durch die MeToo-Bewegung auch in der Gesellschaft verändert. Bis dahin war auch in den Medien oder in der allgemeinen Wahrnehmung der Missbrauch von Erwachsenen – der emotionale, der physische, die häusliche Gewalt – schon ab und zu ein Thema, aber nicht so, wie wir das heute kennen. Das hat sich auch auf die Kirche ausgewirkt.
Wir haben seit 2019 ein Gesetz, in dem auch in der Kirche Missbrauch verschiedenster Art gegen vulnerable erwachsene Personen strafbar gemacht wurde und auch das Vertuschen von solchen Missbrauchshandlungen. Das ist ein wichtiger Schritt nach vorne gewesen. Wir haben auch in den letzten Jahren sehr intensiv begonnen, in der Kirche über sogenannten geistlichen Missbrauch zu sprechen. Auch das war vor zehn Jahren bei kaum jemandem wirklich auf dem Bildschirm.
Insofern hat sich da sehr viel getan, was in den nächsten Jahren weitergeführt werden muss. Papst Franziskus hat auf dem aufgebaut, was Papst Benedikt XVI. begonnen hatte, mit einigen neuen Gesetzen und mit der Maßgabe, dass alle Bischofskonferenzen Richtlinien gegen Missbrauch und für Prävention und Safeguarding einrichten sollten. Er hat das weitergeführt, er hat einige wichtige Gesetze verändert beziehungsweise vertieft. Er hat das Thema auf die Agenda der Weltkirche gesetzt. Es ist jetzt überall präsent. Das ist sicherlich auch der Verdienst von Franziskus, weil er es immer wieder angesprochen hat, weil er sich immer wieder auf vielen seiner Reisen auch mit Betroffenen getroffen hat.
Notwendig wird sein, dass diese Gesetze auch in aller Konsequenz umgesetzt werden. Es ist nicht so, dass wir nicht auch in der Kirche Gesetze hätten, die das verhindern könnten, dass es zum Beispiel zu einer Verletzung von Amtspflichten kommt, dass die auch bestraft werden können. Aber die Frage ist, wie sie umgesetzt werden. Da ist deutlich Luft nach oben. Das ist auch ein Kultur- und Mentalitätswandel, in dem wir gerade sind.
Ich glaube, dass man Zeichen sieht, dass sich da tatsächlich etwas in die positive Richtung tut. Aber das wird viele Jahre brauchen und es braucht auch die Nachhaltigkeit bei der Umsetzung sowohl der Gesetzesmaßnahmen, aber vor allem auch beim Umdenken, dass es bei der Beschäftigung mit Missbrauch nicht nur um das Verhindern von Missbrauch geht, sondern um das positive Schaffen von sicheren Räumen, sicheren Beziehungen und sicheren Abläufen.
DOMRADIO.DE: Da die Dringlichkeit weltweit unterschiedlich wahrgenommen wird, ist es dann auch wahrscheinlich relativ wichtig, dass der der neue Papst aus einem Erdteil kommt, wo es eine erhöhte Sensibilität für das Thema gibt?
Zollner: Meine Erfahrung über die letzten Jahrzehnte ist, dass sich die Sensibilität für dieses Thema nicht an der Herkunft aus einem Land oder aus einem liberalen oder konservativen Lager definieren lässt. Sondern es handelt sich um eine persönliche Überzeugung, dass dieses Thema wichtig ist, dass Betroffene angehört werden müssen, dass wir uns für Safeguarding einsetzen sollen. In unserem Institut für Anthropologie an der Gregoriana, wo wir seit zwölf Jahren Menschen (im Safeguarding) ausbilden, da kommt es nicht darauf an, wo unsere Studierenden herkommen, sondern auf ihre Bereitschaft, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen und sich einzulassen.
Insofern ist es wichtig zu sehen, dass das auch beim Vorkonklave angesprochen werden sollte. Das wird natürlich vorbereitet, aber es sollte auch klar sein, dass hier Kandidaten in die eigene Gewissenserforschung gehen müssen. Wenn sie größere Probleme mit dem Thema hatten, wenn sie nicht so agiert haben, wie das nötig gewesen wäre, dann müssen sie sich fragen, ob sie geeignet sind, als Kandidaten gehandelt zu werden.
Das Interview führte Jan Hendrik Stens.