DOMRADIO.DE: Sie sind - wie Franziskus es war - Jesuit. Haben Sie ihn persönlich kennenlernen dürfen?

Bruder Michael Schöpf (Jesuit, internationaler Direktor des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes, Jesuit Refugee Service): Ich hatte tatsächlich mehrere Male die Gelegenheit, ihn persönlich zu treffen. Man muss sich das vorstellen wie ein Treffen mit einem ganz normalen Menschen. Er kam unglaublich interessiert, herzlich und offen rüber und wollte über das sprechen, was die Erfahrung der anderen Leute ist. Er hat keine Reden gehalten. Er kam mit seiner eigenen spirituellen und pastoralen Erfahrung und hat geglaubt, dass der Dialog ein Mittel ist, bessere Lösungen zu finden. Das fand ich in unserer Welt sehr überzeugend.
DOMRADIO.DE: Was sagt es aus, dass Franziskus in seiner letzten Osterbotschaft, die nun so etwas wie ein Vermächtnis geworden ist, ausdrücklich die Migranten erwähnt?
Schöpf: Er hat über ein Herzensanliegen gesprochen. Er war ein leidenschaftlicher Verteidiger von Migranten und Flüchtlingen. In seinem ganzen Pontifikat hat er uns dazu aufgerufen, Verantwortung zu übernehmen und uns um das Leid und die Not der Leute zu kümmern; die Todesschreie und die im Mittelmeer ertrunkenen Migranten wahrzunehmen und tatsächlich um diese Menschen zu trauern und sie überzeugt bei uns willkommen zu heißen.
Es gibt zwei Trends, die sehr wichtig sind. Der eine Trend ist, Migranten etwa durch Abschiebehaft an den Grenzen unsichtbar zu machen. Franziskus wollte die Flüchtlinge aus der Unsichtbarkeit herausholen. Der zweite Trend ist, Migranten nur als Objekt von Politik und eigenen Interessen wahrzunehmen oder sie ganz auszuschließen. Franziskus wollte die Würde jedes einzelnen Flüchtlings verteidigen. Er wusste die Angst und Gleichgültigkeit lähmen. Er hat uns die Frage gestellt: Wo ist dein Bruder? Das ist keine Frage an irgendjemanden, sondern an mich.
DOMRADIO.DE: Franziskus hat die Verachtung gegenüber Migranten noch in seinen letzten Worten auf dem Petersplatz gegeißelt. Direkt bevor er den Ostersegen sprach, hat er den als Anti-Migranten-Hardliner bekannten US-Vizepräsidenten J.D. Vance empfangen. Wie tragisch ist es, dass der schwerkranke Papst zu dem Zeitpunkt mutmaßlich nicht mehr viel Kraft hatte, um Vance ins Gewissen zu reden?
Schöpf: Es war ein kurzes Treffen. Wir wissen nicht, was sie sich gesagt haben. Papst Franziskus konnte auch in zwei Sätzen sehr klar formulieren, was ihm wichtig war. Sicher ist aber, dass er kurz zuvor einen Brief an die ost-amerikanischen Bischöfe geschrieben hat, der an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ. Er hat sich auf die Streichung der humanitären Hilfe bezogen, die - wie wir gerade sehen - wirklich Menschen auf der Welt verhungern lässt. Er hat sich auf Abschiebungen bezogen, die ohne rechtliche Grundlage stattfinden.
Seine Botschaft lautete, dass das, was auf Gewalt gebaut ist und nicht auf der Wahrheit, einen sehr schlechten Anfang hat. Und was einen schlechten Anfang hat, wird ein schlechtes Ende nehmen. Wir müssen alle anerkennen, dass die Würde jedes Menschen gleich ist.
In diesem Brief an die US-Bischöfe hat sich der Papst deutlich auf Vizepräsident Vance bezogen. Er schrieb, dass es keine konzentrischen Kreise der Liebe gibt - zuerst meine Familie, dann meine Freunde, dann mein Land, dann vielleicht jemand anderes. Die christliche Liebe ist die Liebe des guten Samariters. Die Leute wahrzunehmen, die in Not sind und sich ihrer Not zu stellen.
Wenn er trotzdem mit Vizepräsident Vance gesprochen hat, kann das auch ein Zeichen dafür sein, dass Franziskus wirklich glaubte, wenn es um solche essenziellen Dinge wie die Wahrheit und die Frage des Friedens geht, müssen wir miteinander sprechen. Auch mit denen, die möglicherweise eine ganz andere Weltordnung haben möchten.
DOMRADIO.DE: Seine erste Reise als Papst hat Franziskus zur Insel Lampedusa geführt, wo er sich mit Geflüchteten getroffen und auf das Schicksal der vielen Ertrunkenen aufmerksam gemacht hat. Was sind weitere Schlüsselmomente seines Engagements für Menschen auf der Flucht und Migranten?
Schöpf: Jede Reise in den zwölf Jahren seines Pontifikats hatte die Konstante, dass es Papst Franziskus um gerechte Beziehungen ging und um eine Welt, die auf Begegnung und Gastfreundschaft aufgebaut ist. Er hat nicht nur viel darüber gesprochen. Er hat viele Zeichen gesetzt, wenn man an die Besuche in Lesbos oder an den letzten Besuch in Indonesien denkt. Dort hat er Flüchtlingen in seinem Programm einen prominenten Platz gegeben. Das in einem Land, das die Genfer Flüchtlingskonvention nicht anerkennt und unterschrieben hat.
In diesem Kontext warnte er vor sehr engen nationalistischen Identitäten, die die Migranten zum Feind der Gemeinschaft, des Volkes und des Staates machen. Er hat diesen Mechanismus als einen Mechanismus der Entmenschlichung entlarvt, der dann erlaubt, mit meinem Bruder alles zu machen, was ich will. Er hat die Aufgabe der Kirche als eine Solidarität in der Praxis definiert. Eine Praxis, die Migranten willkommen heißt, Migrantinnen beschützt, ihre Entwicklung fördert und sie integriert. Das ist, wozu er uns und alle Menschen guten Willens aufgerufen hat. Das ist, was er der Kirche ins Programm geschrieben hat.
DOMRADIO.DE: Hatten Sie bei Ihrer Arbeit mit Geflüchteten und Migranten den Eindruck, dass diese Menschen in Franziskus einen Fürsprecher, vielleicht sogar Beschützer, gesehen haben?
Schöpf: Mit Sicherheit und sehr konstant. Er hat Migranten als Menschen gesehen. Er hat ihnen entgegen der Politik einen Platz in der Gemeinschaft gegeben. Er hat sie genauso behandelt und empfangen wie die Mächtigen der Welt. Er hat ihre Würde verteidigt. Was könnte man mehr tun?
DOMRADIO.DE: Haben Sie Sorge, dass der Nachfolger nicht so bestimmt und mit so viel Herzblut für die Sache von Flüchtlingen und Migranten eintreten wird?
Schöpf: Jeder Papst und jede Zeit hat ihre eigenen Schwerpunkte. Für Franziskus waren es diese drei: der Einsatz für die Migranten und Geflüchteten, der Einsatz für ein gemeinsames Haus, in dem wir wohnen, und der Austausch für Versöhnung zwischen den Religionen. Papst Franziskus ähnelt in der Hinsicht ein bisschen Pedro Arrupe SJ, dem Gründer des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes, weil ihm bewusst war, dass es nicht nur um Geflüchtete als Hilfeempfänger geht, sondern um uns selbst.
Die Flucht stellt uns vor die Frage, wer wir als Menschen sein wollen. Wie wollen wir unsere eigene Menschlichkeit leben, die durch die Tragödie der Flucht von 123 Millionen herausgefordert wird? Wenn wir unsere Welt anschauen, treten wir in ein sehr rasantes Tempo in einer Welt ein, in der Imperien um ihre Einflusssphäre kämpfen und in der Staaten nicht mehr das Ordnungsprinzip sind, sondern selbst die Ursache für Unordnung, Gewalt und die Bedrohung des Friedens. Franziskus hat dem die Orientierung am Gemeinwohl, einer globalen Solidarität und Anerkennung des Anderen in einem multilateralen System entgegengestellt. Das droht zu verschwinden.
Ich hoffe sehr, dass der nächste Papst die gegenseitige Anerkennung unserer menschlichen Würde weiter ins Zentrum seines Handelns stellen wird, und zwar bedingungslos. Ich selbst glaube, es ist das Einzige, was uns eine Zukunft geben kann. Im Gegensatz zu den Narrativen der Bedrohung, der Zerstörung oder auch der Vernichtung, die uns im Moment verführen sollen. Ich bin überzeugt, dass nur wenige Menschen in einer Welt der Zerstörung und des Hasses leben wollen.
Das Interview führte Hilde Regeniter.