Präses Latzel sieht Seelsorgebedarf abseits der Gemeinde

"Wir brauchen auch eine Form der öffentlichen Seelsorge"

In Krisenzeiten verschärfen sich Probleme, die ohnehin da sind. Für den Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, Thorsten Latzel, kann Seelsorge unterstützen, die eigene Sichtweise zu beleuchten – auch die von Institutionen.

Eine Schultafel in einem Klassenraum mit Kreuz über der Tür / © Julia Steinbrecht (KNA)
Eine Schultafel in einem Klassenraum mit Kreuz über der Tür / © Julia Steinbrecht ( KNA )

DOMRADIO.DE: Sie sagen Seelsorge ist Kernaufgabe der Kirche. Mal kurz auf den Punkt gebracht: Was verstehen Sie unter Seelsorge?

Dr. Thorsten Latzel (Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland): Seelsorge ist die geistliche Begleitung von Menschen in allen Lebenslagen, wo es um die Freiheit des Menschen geht und wo man Gott als Grund dieser Freiheit erfahren kann.

DOMRADIO.DE: Was suchen Menschen heute vor allem in der Seelsorge? Was ist da Ihre Erfahrung?

Latzel: Die Begriffe Seele und Gott, das ist ja manchmal für Menschen heute fremder geworden. Aber Menschen suchen heute nach Ruhe, Trost und Halt – gerade in der Coronazeit, die viele Menschen aufwühlt.

Es geht um die Frage nach Hoffnung und was meinem Leben Halt gibt. Das erfahren wir an den Höhe-, aber auch an den Tiefpunkten des Lebens. Worauf kommt es eigentlich an? Was ist meine Hoffnungsperspektive? Und da können wir in der Seelsorge Menschen, glaube ich, sehr gut begleiten mit unserer christlichen Hoffnung.

DOMRADIO.DE: Dass da ein großes Bedürfnis besteht, steht glaube ich nicht zur Debatte. Aber es ist ja wirklich tragisch, dass viele das Seelsorgeangebot der Kirche gar nicht wahrnehmen, geschweige denn annehmen. Wie könnte sich das ändern?

Latzel: Diese Einschätzung teile ich nicht. Wir sind als Kirche an sehr, sehr vielen Stellen engagiert. Ich nehme mal das Beispiel Telefonseelsorge. Da stehen die Leitungen nicht still. Wir haben Chat-Seelsorge, E-Mail-Seelsorge und an ganz vielen Stellen arbeiten wir mit sehr vielen ehrenamtlichen Menschen qualifiziert zusammen. Die Nachfrage ist da sehr groß.

Wir sind im Bereich von Schulseelsorge aktiv, gerade in Coronazeiten ein wichtiger Bereich. Die Krankenhausseelsorge ist sehr stark nachgefragt, es gibt die Polizeiseelsorge. Aber auch die ganz einfache Seelsorge am Gartenzaun in den Gemeinden, da passiert viel.

Das Problem der Seelsorge ist, dass sie eben im Stillen passiert. Das ist notwendig, insofern kein Problem. Aber deswegen nimmt man sie vielleicht manchmal in der Öffentlichkeit nicht so sehr wahr – vor allem, was da alles, vieles passiert.

DOMRADIO.DE: Sie sagen zur Seelsorge gehört ganz klar auch die Bewahrung der Schöpfung. Den Zusammenhang müssen Sie uns mal erklären.

In Zahlen: Evangelische Kirche im Rheinland

Die Evangelische Kirche im Rheinland zählt aktuell rund 2.336.000 Mitglieder in 643 Kirchengemeinden (Stand 1.1.2022). Mit gut 1,8 Millionen Menschen leben die meisten von ihnen in Nordrhein-Westfalen, gefolgt von Rheinland-Pfalz (rund 325.000), dem Saarland (knapp 127.000) und Hessen (knapp 68.000).

Symbolbild Statistik / © sasirin pamai (shutterstock)

Latzel: Es ist einmal wichtig zu sehen, dass die Seele selbst ein Teil von uns als geschaffenes Wesen ist. Ich sage mal, unsere Seele tickt animalischer als wir uns das häufig denken. Wir haben viel mehr mit den Tieren dabei gemeinsam. Der griechische Begriff für Seele, für Seelsorge heißt ja "Poimenik", also Hirtenkunde. Insofern ist dieses Bild vom verlorenen Schaf, vom verlorenen Hirten, grundlegend für die Seelsorge. Das ist die eine Brücke: Wir haben größere Ähnlichkeiten mit den Tieren.

Auf der anderen Seite ist es aber auch so, dass wir gerade mit allen Tieren als einer beseelten Schöpfung umgehen sollten, also eben mit beseelten Geschöpfen. Wir nehmen wahr, dass sich in unseren problematischen Umgang mit der Schöpfung auch immer ein problematisches Verhältnis zu uns selbst widerspiegelt. Wenn tagtäglich 100 Tier- und Pflanzenarten aussterben, dann stimmt etwas grundlegend mit uns selbst, mit unserer eigenen Einstellung, mit den Zielen unseres Lebens nicht.

DOMRADIO.DE: Sie haben schon ein paar Mal das Stichwort Corona genannt und tatsächlich hat die Pandemie uns unsere Verletzlichkeit ja ganz neu vor Augen geführt. Was bedeutet das konkret für die Seelsorge?

Latzel: Corona hat viele Probleme, die wir ohnehin haben, noch einmal verschärft. Ein Stichwort ist da Einsamkeit in Form des Verlustes der Kommunikation mit anderen. Das erleben wir in Beratungsstellen etwa, dass Menschen anrufen und sagen, sie sind der erste Mensch, mit dem ich heute überhaupt reden kann. Wir erleben das im familiären Kontext, dass Menschen es als Belastung erfahren, gerade wenn der Wohnraum beengter ist, wenn sich Kinder und Jugendliche auf einmal nicht mehr mit anderen treffen können.

Da verschärfen sich aber zum Teil Konflikte, die es auch schon vorher gab. Corona ist insofern ein Katalysator von Spannungen, führt aber auch zu neuen Spannungen. Wir erleben gerade die große gesellschaftliche Diskussion um die Frage, ob es eine Impfpflicht geben soll. Und Seelsorge kann individuell dazu beitragen, dass wir gut mit solchen Spannungen und Herausforderungen umgehen können. Aber wir brauchen auch eine Form der öffentlichen Seelsorge, dass wir gerade in Institutionen, in Einrichtungen gut zusammen durch diese Krise gehen können.

Das Interview führte Hilde Regeniter.

Quelle:
DR