DOMRADIO.DE: Das Grundgesetz orientierte sich nach dem Schrecken des Zweiten Weltkrieges unter anderem am christlichen Menschenbild. Was ist eigentlich die Grundlage für das Völkerrecht?
Vanessa Vohs (Politikwissenschaftlerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Fakultät für Staats- und Sozialwissenschaften an der Universität der Bundeswehr in München): Auch im Völkerrecht können wir zwar nicht direkt, aber indirekt in der Entstehungsgeschichte auf ein christliches Menschenbild zurückblicken.
Wenn wir uns zum Beispiel die UN-Charta anschauen, das heißt das verbindliche Dokument der Vereinten Nationen von 1945, da finden wir einige Prinzipien, die sich sehr gut mit dem christlichen Menschenbild erklären lassen. Gerade bei dem Thema Sicherheit und Frieden kann man sich natürlich das Gewaltverbot anschauen, also das Verbot, dass ein Staat einen anderen Staat nicht angreifen darf. Nichtsdestotrotz finden wir hier auch, angelehnt an die Idee des gerechten Krieges, des "Bellum Iustum", die Möglichkeit unter zwei Ausnahmen Gewalt anzuwenden.
Heute überlassen wir die Frage, was ein gerechter Krieg ist, im positiv-rechtlich festgeschriebenen Völkerrecht nicht mehr einer göttlichen Instanz, sondern einer klaren Bewertung anhand von zwei Ausnahmen. Das sind das Selbstverteidigungsrecht nach Artikel 51 UN-Charta und Zwangsmaßnahmen, die der UN-Sicherheitsrat nach Kapitel 7 beschließen kann.
Dementsprechend geht auch die UN-Charta nicht von einem radikalen Pazifismus aus, sondern erkennt an, dass es Aggressoren gibt, gegen die sich Länder verteidigen müssen. Das ist bei Staaten wie bei der Ukraine der Fall, die sich wehren muss, wenn der Gegenüber ein Aggressor ist und nicht aufhört, die Eskalationsspirale nach oben zu treiben.
DOMRADIO.DE: In Deutschland sollen die Gesetze natürlich eingehalten werden. Dafür gibt es die Polizei, dafür gibt es Gerichte. Aber wie durchsetzungsstark ist denn das Völkerrecht überhaupt? Passiert irgendwas, wenn ein Staat das Völkerrecht konkret bricht?
Vohs: Auch im nationalen Recht haben wir natürlich die Lage, dass Mord zum Beispiel verboten ist. Nichtsdestotrotz passieren weiterhin Morde in Deutschland.
Wenn man das Ganze auf das Völkerrecht überträgt, ist es natürlich auch so, dass das Gewaltverbot seit 1945 bindend gilt – im Übrigen für alle Staaten dieser Welt, auch für Nicht-Unterzeichner der UN-Charta, denn das ist sogenanntes zwingendes Völkerrecht. Und bei einem Bruch dessen kommt es im Völkerrecht auch darauf an, dass die anderen Staaten ganz klar sagen, dass das so nicht in Ordnung ist.
Das Völkerrecht muss durch die Internationale Gemeinschaft und moralische Instanzen, sicherlich auch durch die Kirche, durchgesetzt werden. Denn nicht jeder Bruch der UN-Charta, des Völkerrechts, kommt auch vor ein Gericht.
Es gibt zwar den Internationalen Gerichtshof, der bei völkerrechtlichen Streitigkeiten zwischen Völkerrechtssubjekten, zwischen UN-Mitgliedstaaten zuständig ist. Allerdings müssen die Konfliktparteien der Gerichtsbarkeit des Internationalen Gerichtshofs erst zustimmen.
Wenn also zum Beispiel Israel sagt, man möchte nicht vor den Internationalen Gerichtshof; der Iran das aber wollen würde, würde es nicht zu einem Prozess vor dem Internationalen Gerichtshof kommen. Deswegen nochmal der Appell daran, dass es umso wichtiger ist, konkret zu sagen, was ein Völkerrechtsbruch darstellt. Dazu sind im Übrigen im Falle des Gewaltverbotes auch alle anderen Staaten verpflichtet, zu kooperieren und diesen Rechtsbruch zu einem Ende zu bringen.
DOMRADIO.DE: Papst Leo XIV. ruft immer wieder zu Frieden auf, genau wie so ein Vorgänger. Gerade weil das Völkerrecht nicht so durchgesetzt werden kann wie nationales Recht. Wie wichtig kann da die moralische Autorität eines Papstes werden?
Vohs: Interessant ist, dass der Vatikan kein Mitgliedsstaat bei den Vereinten Nationen ist. Der Heilige Stuhl ist aber Völkerrechtssubjekt, kann also Vertragspartei sein, kann bei wichtigen Friedensprozessen mitwirken.
Um ein Beispiel zu nennen: Papst Franziskus war beim FARC-Friedensprozess 2016 in Kolumbien beteiligt, auch im Hintergrund als starker symbolischer Akteur. Der abgeschlossene Friedensvertrag wird auch von der Kirche mitgetragen. Das ist also durchaus möglich. Gerade wenn es um das Ende von einem Krieg geht, dann wird das in der Regel am Verhandlungstisch entschieden. Und hier als Mittler zu wirken – da sehe ich durchaus auch Papst Leo in dieser Rolle, in dieser vermittelnden Akteursfunktion –, sodass auch er sicherlich den Weltfrieden betonen kann und am Ende dann hoffentlich in einem Konfliktfall an einem guten Friedensvertrag mitwirken kann.
DOMRADIO.DE: Es gibt viele Situationen, in denen die einen sagen, das ist völkerrechtswidrig, wie etwa bei den israelischen Luftschlägen gegen das iranische Atomprogramm. Andere widersprechen und sagen, wenn sich ein aggressiver Staat nicht an das Völkerrecht hält, kann der bedrohte Staat nicht einfach zusehen, wie er "völkerrechtgemäß" untergeht. Wie löst man dieses Dilemma?
Vohs: Das ist in der Tat ein Dilemma, in dem konkreten Fall von Israel und Iran muss man vielleicht ein bisschen ausholen. Es gibt zwei Möglichkeiten, Gewalt völkerrechtlich zu rechtfertigen. In diesem Fall geht es um das Selbstverteidigungsrecht. Da es sich hier um Atomwaffen handelt, also die potenzielle Gefahr, dass der Iran Atomwaffen entwickelt, die die Existenz des Staates Israel gefährden – das hat der Iran ja nun mal offen zugegeben, dass das sein erklärtes Ziel ist – dann kann man natürlich verstehen, dass der Staat Israel nicht dem Ganzen offen ins Auge blicken kann und erst wartet, bis seine Existenz gefährdet ist.
Allerdings muss man sagen, dass das Gewaltverbot natürlich sehr enge Grenzen setzt, wann Selbstverteidigung erlaubt ist und die Voraussetzung hierfür ist ein so genannter bewaffneter Angriff. Jetzt kann man noch nicht davon sprechen, dass Israel angegriffen wurde. In der Regel sagt man, dass es ausreichend ist, wenn ein solcher bewaffneter Angriff unmittelbar bevorsteht, ähnlich wie das beim Sechstagekrieg 1967 der Fall war, als Israel konkret bedroht war.
Im aktuellen Fall mit dem Iran muss man vermutlich sagen, dass dieser bewaffnete Angriff noch nicht unmittelbar bevorstand. Das ist die rechtliche Bewertung der Lage; nichtsdestotrotz kann man natürlich auch verstehen, dass es weitere moralische und politische Diskussionen um das ganze Thema gibt und dass diese Schläge Israels gegen den Iran nicht ohne den Kontext zu betrachten sind.
Denn am 7. Oktober 2023 begann ja die ganze Situation mit dem perfiden Anschlag der Hamas auf Israel und die immer wieder stattfindenden Angriffe, auch durch den Iran gesteuert, über die Huthis im Jemen, über die Hisbollah im Libanon und eben die Hamas im Gaza-Streifen.
Von daher ist das Völkerrecht ein gutes Mittel, um einheitlich über die Frage von Krieg und Frieden zu sprechen. Nichtsdestotrotz muss man auch hier schauen, dass man die realpolitischen Vorstellungen und das Völkerrecht in Einklang bringt. Ansonsten verliert auch Völkerrecht seine moralische Daseinsberechtigung.
DOMRADIO.DE: Normalerweise denkt man, dass das Recht eindeutig ist. Also ich darf nicht falsch parken, wenn ich das doch tue, bekomme ich ein Knöllchen, zumindest wenn ich erwischt werde. Das, was Sie sagen, klingt fast so ein bisschen, als wäre das Völkerrecht manchmal ein bisschen grau ist oder kann gedehnt werden. Ist das ein falscher Eindruck?
Vohs: Ich bin kein Fan davon, von grau zu sprechen, denn das würde ja bedeuten, dass es keine Antwort gibt, ob jetzt eine gewisse Situation ein Rechtsbruch war oder nicht.
Ich glaube, man kann durchaus zu unterschiedlichen Bewertungen kommen und kann darüber diskutieren. Am Ende des Tages gibt es aber eine sogenannte herrschende Meinung. Was setzt sich also durch, was Völkerrecht ist und was es nicht ist?
Das Ganze soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Völkerrecht natürlich auch wandelbar ist. Es gibt so etwas wie Völkergewohnheitsrecht. Das entwickelt sich durch Staatenpraxis und Rechtsauffassung. Wenn es jetzt hier in dem konkreten Fall um die Bedrohung von Nuklearwaffen geht, kann man durchaus auch davon ausgehen, dass Völkerrecht wandelbar ist, dass sich Vertragsnormen oder Völkergewohnheitsrecht ändern kann. Insofern wäre es natürlich positiv, wenn Israel darauf hinarbeiten würde, eine gemeinsame Auffassung auch mit anderen Staaten zu entwickeln und hier das Völkerrecht auch an die Gegebenheiten des 21. Jahrhunderts anzupassen und genau daran zu arbeiten.
DOMRADIO.DE: Israel ist umzingelt von Staaten und Terrororganisationen, die offen sagen, dass sie das Land vernichten wollen. Seit Monaten geht Israel im Gazastreifen vor, um Geiseln zu befreien und die Hamas zu besiegen. Mittlerweile gibt es eine zunehmende Kritik, unter anderem auch vom deutschen Bundeskanzler und von vielen anderen Regierungen. Ist das denn völkerrechtlich eigentlich klar geregelt, wie sich ein Staat verteidigen darf und wie weit er da gehen kann, gerade mit Blick auf die Zivilbevölkerung? Gibt es Kriterien, ab denen es einen klaren Bruch des Völkerrechts darstellt oder ist es auch da wieder so, dass es nicht eindeutig ist?
Vohs: Bisher haben wir darüber diskutiert, ab wann ich Gewalt einsetzen darf, die Frage nach dem "Ius ad bellum". Das Völkerrecht sagt dann, wenn es nun zu einem Krieg kommt und dieser stattfindet, dann ist erstmal egal, wer Aggressor war. Alle Parteien haben sich hier an das sogenannte "Ius in bello", das humanitäre Völkerrecht zu halten.
Hier muss man davon sprechen, dass wir im Gaza-Streifen die Hamas als terroristische Organisation haben und Israel als Staat. Wir können in der Regel nicht von einem internationalen bewaffneten Konflikt ausgehen, sondern von einem nicht-internationalen bewaffneten Konflikt. Und hier gelten dann die Regeln für genau solche Konflikte.
Jetzt wäre es in einem Interview vermessen, den Konflikt umfassend völkerrechtlich zu bewerten. Fakt ist sicherlich, dass hier Regeln des humanitären Völkerrechts von beiden Seiten gebrochen werden. Die Situation ist natürlich höchst komplex und der Gaza-Streifen ist mit Sicherheit keine Region wie irgendeine andere auf der Welt. Nichtsdestotrotz gilt natürlich auch für Israel, dass das Land dafür Sorge zu tragen hat, dass die Zivilbevölkerung nicht in Mitleidenschaft gezogen wird, dass sie nicht verhungert und so weiter.
Das Ganze ist mit der Hamas natürlich nicht einfach, wenn Vorräte geplündert werden, wenn hier weiter das terroristische Regime am Leben gehalten wird. Die Lage ist in jedem Fall sehr, sehr komplex und es ist schwierig in einem Interview auf alle Einzelheiten einzugehen.
Das Interview führte Mathias Peter.