Pilgerführer warnt vor Verschwinden der Christen im Heiligen Land

"Und am Kontrollpunkt wartet die Erniedrigung"

Der Autor Johannes Zang sammelt in seinem Buch Stimmen christlicher Palästinenser. Seit dem 7. Oktober 2023 berichten sie von fehlender Bewegungsfreiheit, bedrohten Existenzen und der Gefahr, dass Christen das Heilige Land verlassen.

Autor/in:
Ina Rottscheidt
Kreuz vor der Altstadtkulisse von Jerusalem / © ESB Professional (shutterstock)
Kreuz vor der Altstadtkulisse von Jerusalem / © ESB Professional ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: Sie haben das Buch "Und am Kontrollpunkt wartet die Erniedrigung" geschrieben, eine Sammlung von Interviews mit über dreißig christlichen Palästinensern, die von ihren Erfahrungen und dem Alltag im Heiligen Land seit dem 7. Oktober 2023 berichten. Was war Ihre Motivation, dieses Buch zu schreiben?

Johannes Zang (Buchautor und Pilgerführer): Ich habe viele Jahre in Bethlehem und Jerusalem gelebt und bin seit über 25 Jahren mit Christen im Westjordanland, in Ost-Jerusalem und im Gazastreifen in Kontakt. Immer mehr von ihnen denken darüber nach, das Land zu verlassen. Irgendwann wurde mir bewusst, wie dramatisch die Situation ist. Ich wollte ihre Stimmen einfangen, bevor sie nach Deutschland, Schweden, Kanada oder in die USA gehen und es so gut wie keine Christen mehr dort gibt. 

DOMRADIO.DE: Macht es für die Menschen und ihr Schicksal im Westjordanland einen Unterschied, ob sie christliche oder muslimische Palästinenser sind? 

Zang: Der Besatzungsalltag mit seinen vielen Facetten ist für Christen wie Muslime gleichermaßen mühsam. Viele meiner Gesprächspartner haben gute Beziehungen zu ihren muslimischen Nachbarn oder Arbeitskollegen. Aber manche erzählen auch von Benachteiligungen, zum Beispiel, wenn man vor einem palästinensischen Gericht steht und der Richter – wie 99 Prozent der Palästinenser – Muslim ist. Und wenn es dann um irgendeine Eigentumsfrage oder Grundstücksfrage geht, fühlen sich Christen benachteiligt. 

DOMRADIO.DE: Von welchen Formen der Erniedrigung berichten Ihnen Ihre Gesprächspartner?

Johannes Zang

"Grundsätzlich litten alle meine Gesprächspartner unter der fehlenden Bewegungsfreiheit: Kontrollpunkte, Mauern und Zäune."

Zang: Sehr zu Herzen ging mir das Interview mit einer ehemaligen Kollegin, die in Haiti geboren wurde. Sie wurde als Nachkomme von Palästinensern geboren, die um die Jahrhundertwende aus wirtschaftlicher Not heraus Bethlehem verlassen hatten. Diese Frau – Paola – hat sich vor über zwanzig Jahren in einen christlichen Palästinenser verliebt, ist nach Bethlehem gezogen und arbeitet dort an der katholischen Universität. Da Israel immer noch das Bevölkerungsverzeichnis der palästinensischen Gebiete kontrolliert, musste sie einen Antrag stellen, um in Bethlehem legal leben zu können. Es hat über zwanzig Jahre gedauert, bis Israel dieser Familienzusammenführung zugestimmt hat. Zwanzig Jahre mit Anwaltskosten, mit ständiger Unsicherheit, vielleicht abgeschoben zu werden, und der Ungewissheit, dass sie, wenn sie nach Haiti reiste, um ihre kranken Eltern zu besuchen, nicht mehr zurück dürfte. 

Das Zitat "Und am Kontrollpunkt wartet die Erniedrigung" stammt von einem 48 Jahre alten Palästinenser, der einen Arzttermin in Ramallah hatte. Eine Strecke von etwa dreißig Kilometern. Er war von sieben Uhr morgens bis um 23 Uhr unterwegs, für einen Termin, der nicht mal eine halbe Stunde gedauert hat. Er erzählte von einem Kontrollpunkt, den Soldaten einfach für vier Stunden dicht gemacht haben. Als es zu regnen anfing, sind die Soldaten abgehauen und haben den Kontrollpunkt unbewacht zurückgelassen. Danach konnte jeder fahren, wie er wollte. Das Thema Sicherheit schien plötzlich keine Rolle mehr zu spielen.

Grundsätzlich litten alle meine Gesprächspartner unter der fehlenden Bewegungsfreiheit. Kontrollpunkte, Mauern und Zäune machten für sie eine Fahrt zum Krankenhaus, zur Schule oder Universität, zu Verwandten, Kunden oder Geschäftspartnern oft unmöglich.

Johannes Zang

"Wenn diese Evangelikalen als Pilger ins Heilige Land reisen, nehmen sie die christlichen Palästinenser häufig gar nicht wahr."

DOMRADIO.DE: Neben der Gewalt seitens national-religiöser, jüdischer Extremisten und Siedler, schreiben Sie in Ihrem Buch über christliche Zionisten, die es den christlichen Palästinensern schwer machen. Inwiefern? Es handelt sich doch immerhin um Glaubensbrüder und -schwestern …?

Zang: Wir wissen aufgrund von seriösen Publikationen, dass mindestens jeder vierte Christ in den USA einer evangelikalen Freikirche angehört. Diese unterstützen Israel bedingungslos, ideell und finanziell. Sie glauben, dass sich die Verheißungen der Heiligen Schrift erfüllen, wenn Jesus zurückkehren und ein 1000-jähriges Reich auf Erden errichten wird. Doch als Vorbedingung für das Kommen Jesu müssten alle Juden nach Israel zurückkehren. Deswegen unterstützen christliche Zionisten den modernen Staat Israel: Sie erachten ihn als Erfüllung der Prophetie, wonach Gott sein Volk sammeln werde.

Wenn diese Evangelikalen als Pilger ins Heilige Land reisen, nehmen sie die christlichen Palästinenser häufig gar nicht wahr. Sie reisen nach zehn Tagen zurück und denken, dort leben nur Juden und Muslime. Ein palästinensischer Christ hat mir einmal erzählt, eine Amerikanerin habe ihm ins Gesicht gesagt: "Ihr gehört hier nicht hin. Ihr steht dem Heilsplan Gottes im Wege." Und das, obwohl seine Familie seit Generationen dort lebt. 

DOMRADIO.DE: Gibt es denn irgendeine Person in Ihrer Interviewreihe, die sich dennoch mit Hoffnung in die Zukunft blickt?

Zang: Schwere Frage, aber ich denke an Hagop, einen armenisch-palästinensischen Christen und Töpfermeister in der Altstadt von Jerusalem. Er hat tatsächlich die zarte Hoffnung, dass sich der Konflikt mit gutem Willen auf beiden Seiten lösen ließe. Aber der Tenor bei den meisten meiner Interviewpartner war eigentlich Perspektivlosigkeit, Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung, Niedergeschlagenheit und auch Enttäuschung über den Westen.

DOMRADIO.DE: Im Westjordanland und Ost-Jerusalem leben knapp 50.000 Christen, in Gaza einige Hundert. Was würde es bedeuten, wenn diese Menschen das Land auch noch verlassen?  

Johannes Zang

"So viele berufliche und private Träume sind kaputt gegangen, so viel Potenzial in diesen Leuten, das sich nicht entfalten konnte."

Zang: Schon jetzt wird diese Diskussion in vielen Familien geführt: Bleiben oder gehen? Im Westjordanland, wo etwa drei Millionen Menschen leben und der Christenanteil bei etwa einem Prozent liegt, sind diese wenigen Christen für dreißig bis vierzig Prozent der Gesundheitsversorgung zuständig: Sie betreiben Krankenhäuser, Arztpraxen und soziale Einrichtungen wie Waisenhäuser und Sozialstationen. Ohne die Christen würde in diesem Bereich vieles zusammenbrechen.

Die Christen verstehen sich auch als Hüter der heiligen Stätten. Noch gibt es die, die sagen, sie wollen dort bleiben und diese christliche Präsenz aufrechterhalten. Aber das wird immer schwieriger. Viele leben vom Pilgergewerbe und vom Tourismus, als Hotelbesitzer, Restaurantbesitzer, Reiseleiter, Olivenholzschnitzer oder Souvenirhändler. Aber die Besucher sind wegen des Krieges in den letzten Jahren ausgeblieben. 

Das Heilige Land ohne die Christen wäre wie ein Disneyland, ein Museum, an heiligen Orten ohne die Einheimischen. Ich fürchte, das könnte in zehn bis fünfzehn Jahren tatsächlich Wirklichkeit werden. 

Ein Aspekt, der mir bei meinen Gesprächen klar geworden ist, ist, wie viele private und berufliche Träume diese Besatzungssituation bei den Palästinensern zerstört oder verhindert hat. Leute mussten ihr Studium abbrechen, weil Israel in der ersten Intifada alle palästinensischen Universitäten geschlossen hat. Sie mussten sich völlig neu orientieren oder konnten nicht so heiraten, wie sie wollten, weil Israel das Bevölkerungsverzeichnis kontrolliert und auch die Familienzusammenführung kontrolliert und behindert. So viele berufliche und private Träume sind kaputt gegangen, so viel Potenzial in diesen Leuten, das sich nicht entfalten konnte.

Das Interview führte Ina Rottscheidt.

Buch: "Und am Kontrollpunkt wartet die Erniedrigung"

Pilger und Touristen sind oft erstaunt, Christen im Heiligen Land - der Wiege der Christenheit - anzutreffen. Sie rechnen mit jüdischen und muslimischen Bewohnern. Die, denen die christliche Präsenz bewusst ist, kennen vielleicht Bücher oder Interviews prominenter palästinensischer Christen. Was jedoch denkt der weniger prominente Christ? Wie meistert er den Alltag unter Israels Militärbesatzung? Wie hat sich dieser seit dem 7. Oktober 2023 verändert? Wie glauben und wovon träumen Christen in Ramallah oder Bethlehem? Was erhoffen sie?

 © messidorverlag
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Quelle:
DR

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