Moraltheologin hält an "Woche für das Leben" fest

Eine "vergebene Chance"?

Die Evangelische Kirche Deutschland hat ihren Austritt aus der "Woche für das Leben" verkündet. Kerstin Schlögl-Flierl, Mitglied im Deutschen Ethikrat, wünscht sich einen ausgleichenden Diskurs in den Fragen um den Schutz des Lebens.

Annette Kurschus (m.), Ratsvorsitzende der Evangelische Kirchen in Deutschland (EKD), und Johannes Wübbe (r.), Weihbischof in Osnabrück, beim Ökumenischen Gottesdienst zur Eröffnung der Woche für das Leben 2023 im Osnabrücker Dom / © Detlef Heese/epd (KNA)
Annette Kurschus (m.), Ratsvorsitzende der Evangelische Kirchen in Deutschland (EKD), und Johannes Wübbe (r.), Weihbischof in Osnabrück, beim Ökumenischen Gottesdienst zur Eröffnung der Woche für das Leben 2023 im Osnabrücker Dom / © Detlef Heese/epd ( KNA )

DOMRADIO.DE: Eine 30 Jahre alte gemeinsame Aktion der evangelischen und der katholischen Kirche in Deutschland steht fast vor dem Aus. Welches Signal geht davon, angesichts der gegenwärtigen Kirchenkrise, aus?

Kerstin Schlögl-Flierl / © Harald Oppitz (KNA)
Kerstin Schlögl-Flierl / © Harald Oppitz ( KNA )

Prof. Dr. Kerstin Schlögl-Flierl (Professorin für Moraltheologie an der Universität Augsburg und Mitglied im Deutschen Ethikrat): Als erstes würde ich mich immer fragen, was die "Woche für das Leben" ausgezeichnet hat? Ich glaube, durch sie wurden Themen wie Schwangerschaftsabbruch und Sterbehilfe in dieser ökumenischen Verbundenheit in den Gemeinden wieder präsent. So wurden die Stimmen wieder für Themen erhoben, die nicht so regelmäßig diskutiert werden. Genau da, wo es knirscht, wo es wehtut, wo man gut streiten kann. Die "Woche für das Leben" hat diese Themen jetzt 30 Jahre lang immer wieder auf verschiedenen Ebenen nach vorne gebracht.

Man muss das auf der Ebene der Ortskirchen sehen, durch den Eröffnungsgottesdienst auch auf der Ebene von ganz Deutschland. Durch die Seelsorge-Amtsleiterinnen und Amtsleiter wurden die Themen in die Bistümer bis in die Gemeinden herein getragen.

Die Schlagkraft dieser "Woche für das Leben" liegt für mich darin, dass man jedes Jahr die Möglichkeit hat, ganz unterschiedliche Themen, wie Demenz, die Junge Generation Zukunft, Lebensschutz, Selbstbestimmung und die schwierigen Fragen am Anfang und am Ende des Lebens auf verschiedenen Ebenen zu diskutieren.

DOMRADIO.DE: Wie ist diese ökumenische "Woche für das Leben" in unserer säkularen Gesellschaft aufgenommen worden?

Kerstin Schlögl-Flierl

"Hier ist die Frage 'Wie bildet man sich ein christliches Urteil?'"

Schlögl-Flierl: Die Frage, wie wir als katholische und evangelische Kirche in ökumenischer Verbundenheit Orientierung geben können, gab es immer. Hier ist die Frage, wie man sich ein christliches Urteil bildet.

Die "Woche für das Leben" hat durch das Begleitmaterial zu diesen Fragen in Artikeln oder Gebeten immer ganz viele Anregungen gegeben. Sie hat aber auch versucht, sich eine wissenschaftlich fundierte und praktisch orientierte Position zu erarbeiten.

Mit dieser Positionierung hat man in dieser Vielstimmigkeit eine Relevanz bekommen. Da muss ich natürlich wissen, was das christliche Menschenbild ausmacht, was die pro und contra-Argumente sind.

DOMRADIO.DE: In den vergangenen Jahren gab es zwischen den Kirchen, gerade bei ethischen Fragen, immer wieder unterschiedliche Standpunkte. Schaden diese Differenzen dieser Aktion eher oder nützen sie eher was?

Kerstin Schlögl-Flierl

"Man lernt doch am Partner gegenüber, wo die eigene Position ist."

Schlögl-Flierl: Ich fände es stark, wenn wir diese Frage der Vielfalt unter der Frage der Differenz aufmachen würden. Man lernt doch am Partner gegenüber, wo die eigene Position ist.

Für mich war es immer sehr nützlich zu sehen, wie unterschiedlich diese christlichen Positionen gestaltet sein können. Da können wir doch grob von einer gemeinsamen Basis ausgehen. Dieses "sich aneinander Reiben" kann ja auch Wärme und Kraft erzeugen, die man wieder nutzt, um seine Stimme zu erheben. Deswegen habe ich es immer positiv gesehen, dass es nicht diese eine monolithische Position gibt.

Wir wollen als Katholikinnen und Katholiken ja auch vielfältig sein. Und diese Vielfältigkeit hat sich für mich in der "Woche für das Leben" immer abgebildet. Im guten Sinne zu diskutieren und zu argumentieren, damit das Bewusstsein für Fragen des Lebensschutzes und der Selbstbestimmung zu schärfen, ist doch das eigentliche Ziel einer solchen Aktion.

DOMRADIO.DE: Manche Lebensschützer reagieren auf den Ausstieg der EKD eher gelassen und argumentieren, dass die katholische Kirche so wieder die Chance habe, sich in Fragen des Lebensschutzes stärker zu profilieren. Sehen Sie eine schärfere Profilierung als einen Gewinn für die katholische Kirche?

Schlögl-Flierl: Also ich bedaure es wirklich zutiefst, wenn es zu diesem endgültigen Ausstieg von der EKD kommen würde, der ja inzwischen bestätigt ist. Vielleicht gibt es auch neuere und andere Formen.

Aber ich würde mich fragen, wie die Positionierung überhaupt funktioniert. Ich würde ganz deutlich die Position für einen seriösen Lebensschutz beziehen wollen. Vielleicht hilft der Ausstieg dabei nochmal zu überlegen, wo genau die katholische Position ist und was eine Seriosität der Position ausmacht.

Es wäre mal wieder an der Zeit, den Auftrag der katholischen Kirche, hier im Sinne des Lebensschutzes, noch mal zu diskutieren und zu reflektieren. Seriosität würde für mich bedeuten, bei den Betroffen zu stehen, bei den Schwangeren, bei den noch Ungeborenen und Sterbenden. Ich fände es wichtig, den Seelsorge- und Begleitungsaspekt stark zu machen.

Darüber hinausgehend würde ich fragen: Welche Kraft besitzt die katholische Kirche für die Menschen, die sich am Rande des Lebens befinden? Was hält sie aus, wenn viele andere schon nicht mehr da sind? Da müssten mehr Praktikerinnen und Praktiker zu Wort kommen, damit diese Vielstimmigkeit und Praxisnähe nochmal plastischer wird. Das würde ich mich sehr freuen.

US-Grundsatzurteil zu Abtreibung "Roe gegen Wade"

Im Grundsatzurteil "Roe gegen Wade" (Roe versus Wade) entschied der Oberste Gerichtshof der USA am 22. Januar 1973, dass staatliche Gesetze, die Abtreibungen verbieten, gegen die Verfassung der Vereinigten Staaten verstoßen. Seither sind in den meisten US-Bundesstaaten Abtreibungen nahezu uneingeschränkt möglich.

Oberstes US-Gericht kippt liberales Abtreibungsrecht / © Steve Helber/AP (dpa)
Oberstes US-Gericht kippt liberales Abtreibungsrecht / © Steve Helber/AP ( dpa )

DOMRADIO.DE: Die evangelische Kirche sagt, sie möchte sich weiter mit diesen wichtigen Themen befassen, sie suche aber angesichts der aus ihrer Sicht geringen Bedeutung dieser "Woche für das Leben" nach neuen, zeitgemäßen Formaten. Was können das für Formate sein, wo sich gegebenenfalls auch die katholische Kirche wieder einklinken könnte? Oder sollte die "Woche für das Leben" beibehalten, diese aber noch mal auf den Prüfstand gestellt werden, um sie anders in die Öffentlichkeit hineinzubringen?

Schlögl-Flierl: Vielleicht kann man zwei Facetten oder zwei Stoßrichtungen ausmachen. Eine Stoßrichtung ist sich binnenkirchlich zu verschiedenen Themen zu positionieren. Da hat die "Woche für das Leben" ja immer Anstöße gegeben, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu Wort kommen lassen und Seelsorgern Best-Practice-Beispiele an die Hand gegeben. Dadurch hat sie uns die komplexe Situation vor Augen geführt. Damit hat sie viel für die kirchliche Bewusstseinsbildung, den Markenkern und die Bildung getan. Deswegen würde ich die "Woche für das Leben" auch gerne aufrechterhalten. Das hat ja auch eine Signalwirkung für die Identität der katholischen Kirche.

Um es praktisch zu machen. Beim Streit um den Paragraf 218 StGB liegt der gesellschaftliche Diskurs sehr stark auf dem Selbstbestimmungsrecht der Frau. Ich bin selbst eine Frau und würde auf jeden Fall auch sagen, dass das Selbstbestimmungsrecht auch in diesem Diskurs wahrzunehmen ist. Aber man trifft wenige Menschen, Diskurs-Partnerinnen und Partner, die die Stimme für das ungeborene Leben erheben. Für künftige "Wochen für das Leben" würde ich mir wünschen, dass man dieses Ausgleichende und Abwägende, diese verschiedenen Positionen in den Diskurs einbringt.

Als Wissenschaftler muss man auch immer schauen, wie man die Forschungsthemen mit den gesellschaftlichen Anliegen verflechtet. Wie bringt man die Themen nach außen? Ich glaube, wir sollten uns erstmal überlegen, was wir überhaupt transportieren wollen. Wenn wir das genau wissen, können wir uns Gedanken um die Transportwege machen.

Ich würde aber sagen, dass es ein schlechtes Signal wäre, die "Woche für das Leben" abzuschaffen. Mit ihr kann man die Frage des Lebensschutzes in seriöser Weise und prominent stellen. Ich glaube nicht, dass wir diese Chance vergeben wollen.

Das Interview führte Jan Hendrik Stens.

"Woche für das Leben" zur Generation Z (2023)

Die jährliche "Woche für das Leben" ist eine bundesweite Aktion der katholischen und der evangelischen Kirche in Deutschland. Damit treten sie gemeinsam für den Schutz menschlichen Lebens in all seinen Phasen ein.

Aktion "Woche für das Leben" der Kirchen  / ©  Julian Stratenschulte (dpa)
Aktion "Woche für das Leben" der Kirchen / © Julian Stratenschulte ( dpa )
Quelle:
DR