Moraltheologe will Theologie-Studium wieder attraktiv machen

"Neue Wege gehen"

Auch in der heutigen Zeit sei das Fach Theologie wichtig, meint der Moraltheologe Jochen Sautermeister. Um Anreize für das Studium zu schaffen, müssten neue Berufschancen eröffnet werden. Eine Entkopplung von den Kirchen lehnt er ab.

Studierende in einem Hörsaal / © Cristian Gennari/Romano Siciliani (KNA)
Studierende in einem Hörsaal / © Cristian Gennari/Romano Siciliani ( KNA )

DOMRADIO.DE: Ist Theologie in der heutigen Zeit noch lebensdienlich?

Jochen Sautermeister / © Julia Steinbrecht (KNA)
Jochen Sautermeister / © Julia Steinbrecht ( KNA )

Prof. Dr. Dr. Jochen Sautermeister (Moraltheologe der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn): Auf jeden Fall. Das lässt sich an verschiedenen Bereichen zeigen. Zum einen kann die Theologie einen Beitrag zur Bearbeitung von Fragen leisten, die sich auf gesellschaftliche Herausforderungen beziehen: Was bedeutet Menschenwürde heute, vor allem angesichts der Entwicklungen der modernen Biotechnologie oder der künstlichen Intelligenz?

Die Theologie ist auch eine wichtige Stimme, wenn es um Fragen nach Frieden, Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung geht, um Nachhaltigkeit, um die Option für die Armen oder um Migration und Flüchtlinge.

Ein weiteres Themenfeld besteht in der Kritik an falschen Göttern, an lebens- und menschenfeindlichen Ideologien, am Missbrauch von Religion etwa im Fundamentalismus.

Und natürlich: Die Sinnfrage und Gottesfrage ist auch heute noch von Bedeutung, insbesondere bei existenziellen Themen im Anblick von Krankheit, Sterben und Tod, Scheitern und Schuld oder Umkehr und Hoffnung. 

Die Theologie ist also für den Menschen, für Politik, Gesellschaft und Pastoral lebensdienlich.

DOMRADIO.DE: Die Lebensrealität von Katholikinnen und Katholiken sieht oft ganz anders aus als die ethischen Prinzipien der katholischen Lehre, etwa der Sexuallehre. Anders als die Normen, die die Kirche diktiert, hat die Theologie nicht zumindest in der Praxis ausgedient?

Jochen Sautermeister

"Die kirchliche Tradition schreibt sich in die Zukunft fort."

Sautermeister: Die Theologie ist auch ein "kulturelles Laboratorium", wie sie ein Dokument des Vatikans vor kurzem bezeichnet hat. Dazu hat die Theologie im Dialog mit den anderen Wissenschaften und Kulturen zu stehen.

Die kirchliche Lehre mit ihren Normen steht von Anfang an in einem Prozess der Entwicklung und ist nichts Statisches. Die kirchliche Tradition schreibt sich in die Zukunft fort. Die Theologie fragt nach den Sinngehalten des Glaubens, sodass der in der heutigen Zeit gelebt werden kann: Was bedeutet Glaube und was ist der Auftrag der Kirche in der Welt von heute? Diese Fragen waren für das Zweite Vatikanische Konzil ganz zentral und sind es auch heute noch.

DOMRADIO.DE: Wie relevant ist es für die Entwicklungen in der Kirche, was Theologen heute sagen oder schreiben? 

Sautermeister: Ich glaube, dass das auf ganz verschiedenen Ebenen zu betrachten ist. Zum einen wirken Theologinnen und Theologen in Kommissionen mit, auf diözesaner Ebene, in Kommissionen der Bischofskonferenzen und auf der Ebene der Weltkirche; aber auch in unterschiedlichen Feldern wie etwa der Caritas, im Bildungswesen, in Verbänden oder der Entwicklungszusammenarbeit. Und nicht zu vergessen: an den Universitäten prägen sie kommende Generationen für Theologinnen und Theologen und können auch Vorbild sein.

Aber die letzte Entscheidung in der Kirche haben Theologinnen und Theologen nicht. Vielmehr liegt die letzte Entscheidung bei den Verantwortungsträgern in der Kirche. In der kirchlichen Hierarchie sind das die Bischöfe und der Papst. 

DOMRADIO.DE: Wäre es eine Idee, das Theologiestudium von den Kirchen mehr und mehr zu entkoppeln, um wieder mehr Studierende zu bekommen?

Jochen Sautermeister

"Wir sind hier in West-Mitteleuropa in einer religionssoziologischen "Sonderwelt"."

Sautermeister: Ich glaube, dass das nicht die Lösung wäre, weil Theologie immer eine konfessionelle Prägung hat, eine kirchliche Anbindung. Sonst wäre Theologie nichts anderes als eine Religionswissenschaft, die auf Religion ausschließlich als Kulturphänomen schaut. Entscheidend ist, nach Wegen zu suchen, wie wir das Theologiestudium wieder attraktiver machen können.

Früher war die Theologie für die Vorbereitung vor allem auf die klassischen kirchlichen Berufe in Pastoral und Religionsunterricht da. Heute sind diese Berufe viel weniger gefragt. Das hat viele Gründe. Da gibt es durchaus Aufgaben, die bei der Kirche liegen; die Theologie kann hier wenig ausrichten.

Allerdings gibt es in vielen Bereichen unserer Gesellschaft weiterhin einen Bedarf an theologischer Kompetenz, zum Beispiel in der Wirtschaft, in den Medien, in der Kultur oder in der sozialen Arbeit. Hier hat die Theologie die Aufgabe, neue Wege zu gehen und neue Studienangebote mit interdisziplinärem und praktischen Zuschnitt zu schaffen, gleichsam aus Tradition für Innovation. An der Katholisch-Theologischen Fakultät in Bonn haben wir in den letzten Jahren mehrere solcher Angebote geschaffen.

Und noch ein Punkt ist mir wichtig: Wir sind hier in West-Mitteleuropa in einer religionssoziologischen "Sonderwelt". Für uns spielt die Religion nicht so eine große Rolle wie in vielen anderen Teilen der Welt. Wir sollten uns dessen bewusst sein, dass es wichtig ist, auch theologische Kompetenz zu haben, um international kompetent agieren zu können. 

Jochen Sautermeister

"Anreize zu schaffen, damit wir junge Menschen für die Theologie begeistern."

DOMRADIO.DE: Könnte die Qualität an den Fakultäten und in den Lehrveranstaltungen denn auf Dauer abnehmen, wenn es weniger Theologie-Absolventen gibt? 

Sautermeister: Ja, das ist leider so. Ich plädiere daher sehr dafür, Anreize zu schaffen, damit wir junge Menschen für die Theologie begeistern und die besten Studierenden für die theologische Forschung und Lehre gewinnen können. Das bedeutet: Berufschancen eröffnen, auch dann, wenn eine wissenschaftliche Karriere am Schluss nicht klappt und man schon viele Jahre mit Promotion und vielleicht auch Habilitation investiert hat.

Man sollte auch in der Qualifizierungsphase durch Stipendien Finanzierungsmöglichkeiten eröffnen, von denen auch junge Familien leben können. Außerdem hat sich der deutsche Fakultätentag der Katholischen Theologie jüngst dafür ausgesprochen, dass das kirchliche "Nihil obstat-Verfahren", das für die Zulassung zu einer Professur ein notwendiger Baustein ist, viel zügiger und transparenter erfolgen solle; ebenso hat er betont, wie wichtig die Wissenschaftsfreiheit und die Einführung von Regeln entsprechend der neuen Grundordnung ist. 

Man sollte die Situation also als Chance begreifen, um kreative Wege zu finden, anstatt den Kopf in den Sand zu stecken oder gar einen Abgesang auf die Theologie zu singen.

Das Interview führte Tobias Fricke.

Information der Redaktion: Unter der Überschrift "Wozu noch Theologie?" spricht der Journalist Joachim Frank in seinem Talkformat "frank und frei" in der Karl Rahner Akademie am Donnerstag, 1. Februar 2024 um 19 Uhr, mit dem Bonner Moraltheologen Jochen Sautermeister und der Leiterin der katholischen Telefonseelsorge Köln Annelie Bracke. Die Talkrunde steht unter dem Leitwort "Leben zwischen Gelingen, Brüchen und Neuanfängen".

Weniger Theologiestudierende an deutschen Unis

An deutschen Universitäten studieren weniger Menschen Theologie als noch vor fünf Jahren. Die Gründe für diesen Rückgang seien sehr verschieden, sagte Gerald Kretzschmar, Studiendekan der Theologischen Fakultät der Universität Tübingen, dem Evangelischen Pressedienst (epd). Im gesamten Bereich der Geisteswissenschaften gebe es einen Rückgang der Studierendenzahlen. Vergleiche man die Entwicklung der Erstsemesterzahlen mit denen der Konfirmationen, sehe man laut Kretzschmar eine Korrelation.

Die Neue Aula, eines der Hauptgebäude der Eberhard Karls Universität Tübingen (Universität Tübingen)
Die Neue Aula, eines der Hauptgebäude der Eberhard Karls Universität Tübingen / ( Universität Tübingen )
Quelle:
DR