Sautermeister ordnet theologischen Wandel Ratzingers ein

Entschieden oder unerbittlich?

Von 1959 bis 1963 war Joseph Ratzinger Professor für Fundamentaltheologie an der Universität Bonn. Dekan Jochen Sautermeister sieht heute dort noch Spuren von ihm. Er erklärt den Wandel in seiner Theologie und die Bedeutung bis heute.

Der damalige Präfekt der Glaubenskongregation, Kardinal Joseph Ratzinger, während einer Pressekonferenz im Vatikan im Jahr 1986 / © ansa/epa/ANSA (dpa)
Der damalige Präfekt der Glaubenskongregation, Kardinal Joseph Ratzinger, während einer Pressekonferenz im Vatikan im Jahr 1986 / © ansa/epa/ANSA ( dpa )

DOMRADIO.DE: Welche Spuren hat Joseph Ratzinger denn an der Universität in Bonn hinterlassen?

Prof. Dr. Jochen Sautermeister (Dekan der katholisch-theologischen Fakultät an der Universität Bonn und Professor für Moraltheologie): Als erstes fallen mir die mündlichen Prüfungen in Katholischer Theologie ein. Ein Teil unserer Fakultätsprüfungen findet im Collegium Albertinum [Ausbildungshaus der Priesterkandidaten im Erzbistum Köln, Anm. D. Red.] statt, und zwar im sogenannten Museumszimmer.

Jochen Sautermeister / © Julia Steinbrecht (KNA)
Jochen Sautermeister / © Julia Steinbrecht ( KNA )

Dort sind Erinnerungen an Joseph Ratzinger aus seiner Bonner Zeit zu sehen. Die Exponate im Museumszimmer des traditionsreichen Collegium Albertinum sind aber nur ein Mosaiksteinchen. Viel wichtiger sind seine theologischen Werke, mit denen man sich auch heute beschäftigt.

DOMRADIO.DE: Dass Ratzingers Theologie die katholische Kirche im vergangenen Jahrhundert mitgeprägt hat, darüber sind sich eigentlich alle einig. Auch am Zweiten Vatikanischen Konzil soll er mit seinen Ideen maßgeblich mitgewirkt haben. Hat er das in Ihren Augen tatsächlich?

Sautermeister: Zweifelsohne. Er wurde ja 1961 von Josef Kardinal Frings als theologischer Berater berufen. Als Konzilsberater war Joseph Ratzinger Mitglied in verschiedenen Kommissionen. Er hat über das laufende Konzil berichtet und Vorträge darüber gehalten. Später hat er Kommentare zu wichtigen Dokumenten des Zweiten Vatikanums geschrieben. Besonders hervorheben möchte ich seine Mitarbeit an der Offenbarungskonstitution "Dei Verbum" – sicherlich ein Schlüsseldokument – wo es um die Frage der Offenbarung geht. Die Offenbarungstheologie war ein ganz zentrales Thema von Joseph Ratzinger. Ihn beschäftigte nämlich die Frage nach der Vermittlung von Glaube und Wissen, von Glaube und Vernunft.

DOMRADIO.DE: In seinen frühen Jahren galt Joseph Ratzinger als Reformer, als großer Reformer sogar auch in seiner Funktion als Berater von Kardinal Frings beim Zweiten Vatikanischen Konzil. Wie konnte aus diesem Reformer später der konservative, kompromisslose Denker werden, den manch einer dann auch "Panzerkardinal" nannte?

Sautermeister: Das ist natürlich eine spannende Frage, galt Joseph Ratzinger in seinen jungen Jahren doch als gemäßigter Liberaler. Sicherlich spielt hier Biographisches eine wichtige Rolle. Einer seiner Schüler, sein damaliger Assistent Wolfgang Beinert, und andere haben ja darauf hingewiesen, dass seine Erfahrungen in den 1968er Jahren mit den Studentenprotesten wohl einen großen Einfluss auf ihn hatten, was sich dann auch in seinem Denken und seiner Haltung niederschlug.

Neben lebensgeschichtlichen Gründen gibt es meines Erachtens für diese Entwicklungen und Reaktionen auch Ansatzpunkte in seiner Theologie. Er hat ja schon in Bonn seine Antrittsvorlesung als Professur für Fundamentaltheologie mit dem Titel "Der Gott des Glaubens und der Gott der Philosophen" gehalten, wo es um die Vermittlung von philosophischem Gottesbegriff und biblischem Offenbarungsglauben ging. Für Joseph Ratzingers Theologie steht der Glaube an Gott als ein personales Du, dass sich als Wort Gottes in Jesus Christus offenbart, im Zentrum: Der Glaube setzt die Vernunft voraus und kann diese vervollkommnen.

So verstanden überbietet der Glaube die Vernunft und lässt sich als Aufklärung des Menschen und seiner Vernunft begreifen. Der Offenbarungsglaube an Jesus Christus als Einheitsgrund der Kirche ist für ihn die entscheidende Bezugsgröße. Wenn er den Eindruck hatte, dass die kirchliche Lehre gefährdet sei, griff er ein. Er war sehr entschieden, manche würden auch sagen unerbittlich, wenn es darum ging, für die Bewahrung der kirchlichen Lehre einzutreten. Daher rührt die Bezeichnung "Panzerkardinal".

Jochen Sautermeister, Dekan der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Bonn und Professor für Moraltheologie

"Er war sehr entschieden, manche würden auch sagen unerbittlich, wenn es darum ging, für die Bewahrung der kirchlichen Lehre einzutreten"

Beispiele für ein solches Agieren gibt es einige: etwa die Maßregelung von Befreiungstheologen, der Ausstieg aus der Schwangerschaftskonfliktberatung in Deutschland, die Verweigerung der Zulassung wiederverheiratet Geschiedener zur Kommunion und andere Themen. Für manche hieß "Panzerkardinal" aber auch, dass diese Unerbittlichkeit in einer gewissen Spannung steht zum Privatmenschen Joseph Ratzinger, einem feinsinnigen, ästhetischen, zurückhaltenden und treuen Mann. Als Wissenschaftler scheute er keine Diskussionen, Kontroversen konnte er aushalten und strebte nicht nach Vereindeutigung. Diese Spannung von unterschiedlichen Erfahrungen mit Joseph Ratzinger lassen sich nicht auflösen und wird auch in den Kommentierungen der letzten Tage deutlich.

DOMRADIO.DE: Schauen wir nochmal auf sein Bild von Kirche. Von außen gesehen galt er ja als Bewahrer, der sehr abwehrend die Kirche vor der modernen Welt schützen wollte. Trifft es das?

Sautermeister: Das kann man durchaus so sagen. Er warnte vor einer Kultur des Relativismus. Er war in Sorge, dass die Wahrheit gefährdet sei. Aus seiner Theologie heraus kann man das auch so sehen: Indem die kirchliche Lehre, der Glaube an Jesus Christus als die Wahrheit und die Kirche als das Geheimnis, das Mysterium des Leibes Christi mit ihren Werten bewahrt werden, dient das auch dem menschlichen Zusammenleben und der Gesellschaft.

Zugespitzt formuliert: Wenn die Kirche untergeht, dann hat das auch für die Gesellschaft und das menschliche Zusammenleben fatale Folgen. Das hat er immer mitgedacht.

DOMRADIO.DE: Wenn wir auf die aktuelle Kirchen- und Glaubenskrise schauen: Sehen Sie da Impulse von Papst Benedikt XVI., die uns heute helfen können?

Sautermeister: Ich glaube das, was Joseph Ratzinger sicherlich ausgezeichnet hat, waren sein intellektuelles Bestreben und seine intellektuelle Kraft, Dinge bis zum Ende zu denken, auch im Blick auf den Glauben. Denn auch heute ist nötig, dass wir uns redlich denkerisch und verantwortungsvoll auseinandersetzen mit existenziellen, religiösen, theologischen und wissenschaftlichen Fragestellungen in aller Offenheit und Weite.

Universität Bonn / © Ahmad RS (shutterstock)

Joseph Ratzinger erinnerte sich auch als Papst Benedikt XVI. gern an die Bonner Zeit zurück, insbesondere an die Weltoffenheit und Dynamik von Bonn, der Universität und ihrem interdisziplinärem Austausch. Daneben zeigt er, wie wichtig es ist, sich auch existenziell mit Fragen des Glaubens auseinanderzusetzen. Glauben ist nicht einfach eine kognitive Angelegenheit, sondern wirklich ein ganzheitliches Geschehen. Gerade die Verbindung von Intellektualität und Existenzialität ist angesichts der aktuellen Herausforderungen geboten.

DOMRADIO.DE: Vor dem Hintergrund all dessen: Was sehen Sie als sein Vermächtnis?

Sautermeister: Ich glaube, es ist jetzt noch zu früh, sein Vermächtnis zu bestimmen. Das wird sich in den nächsten Jahren und Jahrzehnten zeigen. Was entscheidend ist: Er war ein bedeutender Theologe, Kirchenmann und Papst, der die katholische Kirche und das Verhältnis von Kirche und Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten maßgeblich mitgeprägt hat. Sein Rücktritt als Papst im Jahr 2013 zeugte von Demut, Souveränität und Weitsicht, an der künftige Päpste nicht mehr vorbeigehen können.

Das Interview führte Hilde Regeniter. 

Prof. Dr. Dr. Jochen Sautermeister

Forschungsschwerpunkte

  • Grundlegungsfragen der theologischen Ethik
  • Theologisch-ethische Theorie des moralischen Subjekts (v. a. Identität)
  • Medizinethik (v. a. Organtransplantation, psychische Erkrankungen, ethische Fragen am Lebensende, Reproduktionsmedizin)
  • Beziehungs-, Persönlichkeits- und Sexualethik (v. a. Ethik der Lebensformen)
  • Moralpsychologie
  • Resilienz, Achtsamkeit und Spiritualität
Jochen Sautermeister / © Julia Steinbrecht (KNA)
Jochen Sautermeister / © Julia Steinbrecht ( KNA )
Quelle:
DR