DOMRADIO.DE: Wie lassen sich die Selbstbestimmung der Gebärenden und das würdevolle Leben des Kindes unter den aktuellen politischen und sozialen Bedingungen vereinbaren?
Prof. Dr. Dr. Jochen Sautermeister (Moraltheologe an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn und Mitglied des Deutschen Ethikrats): Die besten Bedingungen haben Kinder, wenn sie in familiäre Zusammenhänge hineingeboren werden, in denen sie Zuwendung, Bindung und soziale Sicherheit erfahren. Dazu gehören materielle Grundlagen, aber vor allem eine gute Umgebung. Das gelingt besser, wenn Frauen in Selbstbestimmung entscheiden können.
DOMRADIO.DE: Wer ist dann Anwalt des ungeborenen Kindes?
Sautermeister: Oft wird die Selbstbestimmung der Frau gegen das Lebensrecht des Kindes ausgespielt. Aber es gilt beides: Der Staat hat eine Schutzverantwortung für ungeborenes Leben, das im Grundgesetz verankert ist. Deshalb gibt es die Regelung der Schwangerschaftskonfliktberatung – damit das Lebensrecht des Kindes zur Sprache kommt.
Gleichzeitig ist es zivilgesellschaftlich wichtig, Bedingungen zu schaffen, damit Menschen Kinder wollen und haben können, ohne durch finanzielle oder soziale Notlagen von vornherein ausgeschlossen zu sein.
DOMRADIO.DE: Ist es nicht ein Armutszeugnis, wenn Frauen aus ökonomischen Gründen abtreiben?
Sautermeister: Absolut. Finanzielle Gründe dürfen niemals ausschlaggebend sein. Gerade in einem reichen Land wie unserem. Deshalb ist die Schwangerschaftskonfliktberatung so wichtig. Dort müssen alle Hilfen aufgezeigt werden, damit keine Frau aus Geldnot abtreiben muss.
Diese Pflichtberatungen dürfen nicht aufgegeben werden. Nur so kann sichergestellt werden, dass Frauen erstens hinreichend über die Möglichkeiten der Unterstützung informiert werden, und zweitens konkrete Wege aufgezeigt werden, wie dies geschehen kann.
DOMRADIO.DE: Die katholische Lehrmeinung lässt auch bei Vergewaltigungen oder Lebensgefahr für die Mutter keinen Schwangerschaftsabbruch zu. Wie sehen Sie das?
Sautermeister: Die katholische Lehre kennt das Prinzip der Doppelwirkung. Wenn eine medizinische Behandlung nötig ist, um das Leben der Mutter zu retten, wird der Tod des Kindes nicht intendiert, sondern ist eine Folge der Heilhandlung. Wichtig ist, dass das Leben des Kindes nicht gegen den Willen der Mutter erzwungen werden darf.
Man muss beide zusammen sehen – Mutter und Kind. Deswegen redet man auch von einer Zweiheit in Einheit. Deswegen braucht es Hilfsangebote, die Frauen in Konflikten konkrete Wege eröffnen. Auch wenn die katholische Kirche aus der staatlichen Schwangerschaftskonfliktberatung ausgestiegen ist, macht es Sinn in anderer Form Schwangerschaftskonfliktberatung und Hilfe für schwangere Frauen anzubieten.
DOMRADIO.DE: In Ostdeutschland gibt es kaum noch Geburten von Kindern mit Down-Syndrom. Viele Schwangerschaften werden nach der Diagnose abgebrochen.
Sautermeister: Die Zahl der Abtreibungen nach Paragraf 218a ist ohnehin besorgniserregend hoch – über 100.000 jedes Jahr. Die Tendenz, Kinder mit Behinderungen nach pränataler Diagnose nicht zur Welt kommen zu lassen, ist besorgniserregend. Nicht umsonst sprechen sich Verbände, die sich für Menschen mit Behinderung einsetzen, dagegen aus. Dabei ist das Leben mit einem Kind mit Down-Syndrom vielfältig und individuell.
Von daher müssen wir viel mehr die Frage stellen, was wir tun können und welche Unterstützung Frauen und Paare brauchen, um sich nicht gesellschaftlichem Druck zu beugen. Es ist eine Verantwortung von Kirche und Gesellschaft diese Paare nicht allein zu lassen.
DOMRADIO.DE: Worauf sollten Geistliche achten, wenn sie den Schutz ungeborenen Lebens vertreten?
Sautermeister: Ein entscheidender Punkt im Kontext der Seelsorge ist den Konflikt anzuerkennen und ernst zu nehmen. Frauen oder Paare in einem Schwangerschaftskonflikt erleben ihre Situation als Notlage. In einer Notlage macht sich niemand eine Entscheidung einfach.
Wenn man vorschnell moralisiert, erreicht man sie nicht. Wichtig ist zu verstehen, welche Sorgen bestehen – ob sozial, ökonomisch oder durch Angst vor Überforderung. Nur so kann man Unterstützung aufzeigen. Zudem braucht es ein kinderfreundliches Klima in Gemeinden und in der Gesellschaft, damit Kinder willkommen sind und Eltern nicht allein gelassen werden.
Kinderfreundlichkeit bedeutet, dass soziale Absicherung und Unterstützung gegeben ist. Denn Kinder erhöhen das Armutsrisiko. Wenn es aus ökonomischen Gründen eng ist, müssen wir als Gesellschaft ein Umfeld schaffen, in dem Kinder willkommen sind. Frauen und Paare müssen auch soziale Unterstützung erfahren, wenn beispielsweise die Großeltern weit weg wohnen, damit Kinder gut aufwachsen können.
DOMRADIO.DE: Sollten die ethischen und politischen Leitlinien der aktuellen Regelung im Paragrafen 218 beibehalten werden?
Sautermeister: Auf jeden Fall. Diese Regelung ist ein kluger gesellschaftlicher Kompromiss, der sowohl das Selbstbestimmungsrecht der Frau als auch den Schutz des ungeborenen Kindes berücksichtigt. Beiden Seiten wird Rechnung getragen. Frauen werden durch das Beratungsmodell gestärkt, weil sie Informationen und Unterstützung erhalten, ohne sich dafür rechtfertigen zu müssen. Nur so ist eine verantwortliche Gewissensentscheidung möglich.
Eine Veränderung würde die Polarisierung verschärfen. In den USA sehen wir einen Kulturkampf. Man kann sagen, dass Frauen in Deutschland entsprechend des Paragrafen 218a alle Möglichkeiten haben, sich für einen Schwangerschaftsabbruch zu entscheiden.
DOMRADIO.DE: Wird das Thema nicht politisch zum Kulturkampf hochgespielt?
Sautermeister: Ja, auf jeden Fall. Das ist gefährlich, weil es den Blick auf die konkrete Notlage von Frauen verstellt. Schwangerschaftskonflikte dürfen nicht zum Identitätsmarker im politischen Streit werden.
In einer pluralen Gesellschaft brauchen wir Kompromisse, um sozialen Frieden zu sichern. Das bedeutet nicht, dass die Kirche ihre Position aufgeben muss – aber es bedeutet, dass wir mit unterschiedlichen Überzeugungen in einem Rechtsstaat leben können.
Das Interview führte Johannes Schröer.