Moraltheologe Sautermeister sieht Gefahren in Wokeness

"Schattenseiten von Moral"

"Alle sollen sich daran halten; Verstöße werden sozial sanktioniert." In diesem Anspruch woker Denkweisen sieht der Bonner Theologe Sautermeister eine moralische Gefahr. Zugrunde lägen auch eigene Schuldgefühle.

Jochen Sautermeister / © Julia Steinbrecht (KNA)
Jochen Sautermeister / © Julia Steinbrecht ( KNA )

Der Bonner Moraltheologe Jochen Sautermeister warnt davor, dass sich Wokeness totalitär verselbstständigen kann. Es kämen dabei auch die Schattenseiten von Moral zum Vorschein, sagte er im Interview des politischen Magazins "Cicero". Diese zeigten sich in allen Formen von Moralisierung, die "die konkreten und komplexen Lebensbedingungen außer Acht lässt und somit den Betreffenden in ihren Situationen und Lebenskonstellationen nicht gerecht wird".

Massive woke Kritik an Unterdrückung und Diskriminierung werde "von Akteuren vorgetragen, die selbst privilegiert sind", erläutert Sautermeister. Die Motivation speise sich "also nicht aus einer moralisch überlegenen Position, sondern geht bei ihnen auch mit einem Schuldgefühl der Privilegierten einher", so der Moraltheologe. Deren radikale Kritik lasse sich "zugleich als eine Art Wiedergutmachung deuten, wonach die eigene Schuldverstricktheit geradezu Solidarität, Kritik und Widerstand verlangt". Solcher moralischer Rigorismus blende aber Ambivalenzen aus und "kann sich so verallgemeinern, dass er jede Form von sozialer, sexistischer oder rassistischer Diskriminierung anprangert".

Verabsolutierung und Überstrapazierung

Woke Denkweise stelle eine Verabsolutierung einzelner moralisch wichtiger Aspekte dar, warnt Sautermeister. "Rigoros und für sich alleine genommen, kann damit aber eine neue Form des Totalitären einhergehen." Eine Überstrapazierung einzelner moralischer Aspekte verkehre den moralischen Anspruch in sein Gegenteil, auch wenn das paradox klinge. Sautermeister: "Alle sollen sich daran halten; Verstöße werden sozial sanktioniert."

Das Recht auf Selbstbestimmung, "ein Grundpfeiler unseres Rechtsstaates und unseres moralischen Horizonts", reiche nicht aus, um alle moralischen Fragen zu lösen, so der Bonner Theologe. Der Mensch bleibe ein soziales Wesen, "und die menschliche Lebenswirklichkeit ist eben ambivalent". Polarisierungen seien das Gegenteil davon. Unterschiedliche Wertpriorisierungen könnten "zu verschiedenen Lebensentwürfen und moralischen Urteilen innerhalb einer Gesellschaft führen". Das zeichne eine plurale Gesellschaft aus. "Wichtig ist, dass dabei nicht der soziale Zusammenhalt verloren geht."

Prof. Dr. Dr. Jochen Sautermeister

Forschungsschwerpunkte

  • Grundlegungsfragen der theologischen Ethik
  • Theologisch-ethische Theorie des moralischen Subjekts (v. a. Identität)
  • Medizinethik (v. a. Organtransplantation, psychische Erkrankungen, ethische Fragen am Lebensende, Reproduktionsmedizin)
  • Beziehungs-, Persönlichkeits- und Sexualethik (v. a. Ethik der Lebensformen)
  • Moralpsychologie
  • Resilienz, Achtsamkeit und Spiritualität
Jochen Sautermeister / © Julia Steinbrecht (KNA)
Jochen Sautermeister / © Julia Steinbrecht ( KNA )
Quelle:
KNA