DOMRADIO.DE: Regelmäßig führen Sie Projekte rund um Musik in Kirchen mit zeitgenössischen Elementen durch. Am 7. September geht es zum Beispiel um künstlerische Intelligenz. Da gibt es einen Vortrag mit Musik in der Reformationskirche in Köln. Warum veranstalten Sie auch Konzerte, die vielleicht nicht dem klassischen Kirchenkonzert entsprechen?
Samuel Dobernecker (Kantor der Evangelische Kirchengemeinde Köln-Bayenthal und Kreiskantor des Evangelischen Kirchenkreises Köln-Süd): Für mich ist die Kirchenmusik ein großen Schatz, den wir als christliche Kirchen seit Jahrhunderten anhäufen, aber den letzten Endes Jesus Christus selber gegründet hat. Denn wir stehen auf dem Boden der Psalmen und haben die Frage, wie wir Gott loben können - mit unserem Körper, mit unserem Gesang, mit den Instrumenten, die der menschliche Geist erfindet. Und was ist eigentlich das Lob Gottes? Darauf hat jede Zeit neue Antworten und neue Töne gefunden.
Die Kirchenmusik hat sich die ganze Zeit weiterentwickelt, Grenzen wurden gezogen und immer wieder überschritten, dann wurden neue Grenzen gezogen bei der Frage, was man als angemessen für das Lob Gottes empfand. Die Gefahr ist dabei immer, wenn man auf einem großen Schatz sitzt, dass man ihn besitzen möchte. Wir haben ihn, aber wir sollten ihn auch weiterentwickeln und weitergeben.
Darum geht es auch in der Kirchenmusik, dass wir nicht sitzen bleiben auf dem, was die Generationen vor uns geschaffen haben, sondern dass man das immer zum Anlass nimmt, weiterzugehen - auch damit Kirchenmusik nicht etwas für nur wenige Menschen wird, die sich mit dieser Tradition wohlfühlen und gut auskennen, sondern dass man immer wieder mit der Kirchenmusik mit neuen Versuchen und neuen Kombinationen in die Gesellschaft hingeht.
DOMRADIO.DE: Sie gehen in der Kirchenmusik gern ungewöhnliche Wege, etwa bei Ihrem Konzert am Karfreitag in diesem Jahr in Köln. Wie sind Sie da herangegangen?
Dobernecker: Das Konzert war mit "Warum?" überschrieben. Grundlage waren zwei Bibeltexte, einmal aus dem Buch Hiob "Warum ist das Licht gegeben den Mühseligen" und aus dem Psalm 22 "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?". Für diese alten, antiken Texte hätte man gut barocke, vielleicht auch romantische Vertonungen verwenden können. Daraus hätte man ein schönes Konzert machen können.
Aber die Frage "Warum passiert Leid?" ist einfach aktuell und die beschäftigt die Menschen heute. Wenn beispielsweise ein Mensch in der Ahr-Flut sein ganzes Haus, vielleicht sogar seine Familie verloren hat, dann ist das für ihn heute eine drängende Frage. Dann reicht es nicht unbedingt, darauf mit Musik aus vergangenen Jahrhunderten zu antworten.
Wir haben konkret in das Konzert Videoeinspielungen aus Dokumentationsfilmen über verschiedene Leidensfälle eingebracht. Diese Menschen haben darin kurz in etwa zehn Sekunden berichtet, was ihre Fragen sind oder was ihnen passiert ist, was ihnen zugestoßen ist, bei dem auch beim Publikum die Frage entstanden ist, warum das diesen Menschen passieren musste? Und zwischendurch hat der Chor immer weiter den Psalm 22 gesungen.
Überraschenderweise kamen in diesem alten Text, der über 2.500 Jahre alt ist, so viele Bilder vor, die ganz genau auf das gepasst haben, was die Menschen heute erlitten haben. Der Chor hat den Psalm zwar in einer Psalmodie gesungen, aber ich habe die in einer zeitgenössischen, vierstimmigen Art und Weise für den Chor vertont.
Und so kam das "alte" Gewand, die aktuellen Fragen und neue Töne und neue Formate mit den Videoeinspielungen und der Chorklang, gemeinsam mit improvisierter Musik zusammen. So hoffe ich – und das ist, glaube ich nach den Rückmeldungen, die ich bekommen habe, in diesem Konzert auch gut gelungen – dass für die Menschen in diesem Moment ein Kosmos entsteht, in dem ihre eigenen Fragen und ihr Lebensgefühl aufgehoben sind. Das ist verbunden mit der Vergangenheit, mit den alten Texten, auch mit älterer Musik,. So haben wir von Johannes Brahms die Motette"Warum ist das Licht gegeben" gesungen. Eigentlich war das Konzert ein gottesdienstliches Geschehen in dem Moment.
DOMRADIO.DE: Jetzt gibt es einen Vortrag und Musik, um mal auf die aktuelle Veranstaltung am 7. September bei Ihnen in der Reformationskirche in Köln zu schauen. Es geht um "künstlerische" Intelligenz. Ich habe da zunächst "künstliche" Intelligenz gelesen, weil das ja das Mega-Thema im Moment ist. Warum haben Sie diese Überschrift für das Konzert gewählt?
Dobernecker: Künstliche Intelligenz ist in der Tat das Mega-Thema. Das ist begeisterungsbesetzt, es ist aber auch angstbesetzt. Die Frage ist immer, wird es uns alle ersetzen, werden wir in bestimmten Berufen ersetzt? Wird die KI zum Beispiel die Orgel spielen? Sie wird wahrscheinlich nicht den Chor leiten, aber bei der Orgel als ein technisches Gerät ist das schon eine Frage. Meine Orgel ist midifiziert, also das Signal, was ich mit der Taste auslöse, das geht über ein Midi-Signal dann zu einem Magneten. Da kann ich ganz gut auch ein Computer dranhängen oder ein Keyboard und kann die Orgel spielen lassen.
Die Frage ist hier also eine ganz moderne Fragestellung: Wird dieser technische Fortschritt uns diktieren, wie wir heute leben, wie wir morgen leben werden? Oder haben wir noch mitzusprechen? Können wir gegen diesen technischen Fortschritt überhaupt argumentieren?
Ich bin der Meinung, mit Angst sind wir schlecht beraten. Die KI kann einiges, aber sie kann bestimmt nicht alles. Und was sie genau kann, das möchte ich experimentell in diesem Konzert herausfinden und zeigen. Ob zum Beispiel der Zuhörer merkt, welches Musikstück in dem Konzert ein Computer erfunden hat und welches Stück ein Mensch als künstlerisches Geschehen erschaffen hat. Das ist genau die Frage im Konzert.
DOMRADIO.DE: Das heißt, da erklingt auch tatsächlich Musik, die von der KI erschaffen worden ist?
Dobernecker: Genau, es gibt natürlich verschiedene Wege, wie Programme Musik erzeugt. Bei manchen ist es ganz klar, da hört man von vornherein, dass das jetzt Computermusik ist. Aber man kann natürlich auch KI-Programme anlernen, beispielsweise mit barocker Musik von Johann Sebastian Bach. Da kann dann sagen, hier sind die Midi-Dateien von allen Bach-Präludien und jetzt generiere bitte ein Präludium in diesem Stil. Wir werden gespannt sein, wie das klingt.
DOMRADIO.DE: Ist es schon so weit im Bereich der klassischen Musik, dass demnächst der Komponist nur noch der Computer ist?
Dobernecker: Das würde ich jetzt ungern spoilern. In meiner Beschäftigung mit der Thematik habe ich schon gelernt, dass die Nachahmung von Pop-Songs schon sehr, sehr gut funktioniert, das ist eigentlich unglaublich. Man gibt da einen Text hinein und einen gewünschten Stil dazu und dann kommt ein gefühlt radiofertiges Lied dabei raus.
Bei der klassischen Musik tun sich die Programme etwas schwerer, man merkt schon ein bisschen, wo der Verwendungsbereich dieser Programme bis jetzt ist. Aber wie genau es dann wird, das werden wir am 7. September hören.
Das Interview führte Mathias Peter.
Tipp der Redaktion: "Künstlerische Intelligenz". Vortrag und Musik am 07. September 2025, 18 Uhr; Frank Vogelsang, Vortrag, Samuel Dobernecker, Orgel. Eintritt frei, Reformationskirche, Goethestraße/ Ecke Mehlemer Straße, 50968 Köln