Justitia et Pax sieht Rüstungsausgaben-Rekord differenziert

"Es reicht nicht, auf die Geldsummen zu schauen"

So viel Geld wie noch nie wurde 2023 in Rüstung gesteckt. Aus christlicher Sicht ist das Thema nicht nur schwarz-weiß zu sehen, sagt "Justitia et Pax"-Generalsekretär Jörg Lüer. Manchmal sei Aufrüstung für Christen das kleinere Übel.

Aufrüstung / © Corona Borealis Studio (shutterstock)

DOMRADIO.DE: Über 2.000 Milliarden Euro wurden 2023 laut dem schwedischen Friedensforschungsinstitut SIPRI weltweit für Rüstungsausgaben aufgebracht. So viel wie noch nie. Wie fühlen Sie sich damit? Wird Ihnen da mulmig? 

Dr. Jörg Lüer (Geschäftsführer der deutschen Kommission "Justitia et Pax"): Es ist ein beunruhigendes Zeichen. Aber es kommt nicht ganz überraschend angesichts der sich verdichtenden internationalen Unsicherheitslage. Aber es ist natürlich ein ganz klares Signal, dass sich Sicherheit heute anders anfühlt als noch vor 20 Jahren und wieder viel stärker militärisch gedacht wird. 

Bischof Franz-Josef Overbeck / © Julia Steinbrecht (KNA)
Bischof Franz-Josef Overbeck / © Julia Steinbrecht ( KNA )

DOMRADIO.DE: Man muss sich als Kirche immer die Frage stellen, ob das gut oder schlecht ist? Der Essener Bischof Franz-Josef Overbeck hat sich als Militärbeauftragter der deutschen Bischöfe kürzlich in einem Gastbeitrag in "Christ und Welt" dazu geäußert. Explizit Waffenlieferungen in die Ukraine nennt er "das kleinere Übel" zur möglichen Alternative. Ist Rüstung aus katholischer Sicht in einer bedrohlichen Welt nicht auch gerechtfertigt? 

Lüer: Ich glaube, so allgemein kann man die Frage gar nicht beantworten. Bischof Overbeck ist an der Stelle ganz klar zuzustimmen. Selbstverständlich brauchen wir als geringeres Übel eine Aufrüstung der Ukraine, um diese in den Stand zu versetzen, sich zu verteidigen. Da geht es schlicht um Leben und Tod. 

Jörg Lüer

"Selbstverständlich brauchen wir als geringeres Übel eine Aufrüstung der Ukraine, um diese in den Stand zu versetzen, sich zu verteidigen."

Das heißt, wir müssen uns schon der Mühe unterziehen, uns die einzelnen Lieferkontexte, aber auch die einzelnen Lieferinhalte anzusehen. Es reicht nicht, auf die Geldsummen zu schauen und dann ein bisschen erschreckt zu sein. Vielmehr muss man schauen, was wo und aus welchen Gründen passiert. Und dann wird man jeweils abwägen müssen. 

Wir haben bei "Justitia et Pax", als der Ukrainekrieg zum "Full Scale War" (auf Deutsch "umfassender Krieg" oder "Gesamtkrieg", Anm. d. Red.) eskaliert wurde, 2022 die Formulierung "kluge Waffenlieferungen" gewählt. Dafür sind wir auch angefeindet worden. Die Grundidee dahinter ist, dass wir auch Abwägungsschritte machen. Unkluge Waffenlieferungen wären zum Beispiel, Nuklearwaffen in die Ukraine zu liefern. Aber Artilleriemunition ergibt jetzt Sinn. 

Aber selbst dann, und das ist ganz wichtig in der kirchlichen Lehre, sollten wir uns nicht daran gewöhnen. Das können nur vorübergehende Instrumente sein, um so etwas wie eine Grundstabilität der Abschreckung herzustellen, damit man im internationalen Geschäft auf längere Sicht wieder Vertrauensgrundlagen schaffen kann. 

Jörg Lüer

"Leider gibt es im Katholischen seit dem Zweiten Vatikanum eine Neigung zu einem schwachen sicherheitspolitischen Denken."

Leider gibt es im Katholischen seit dem Zweiten Vatikanum eine Neigung zu einem schwachen sicherheitspolitischen Denken. Da wird dann oftmals zu einfach gesagt, dass man das Geld, was man für die ausgibt, nicht für die Armen ausgeben könne. Das stimmt. Und das ist ein gravierendes Problem. Aber allein mit dem Verweis werden wir den tiefen Problemen der Sicherheitsfrage nicht ganz gerecht. 

DOMRADIO.DE: Deutschland gibt im Moment für Rüstungsausgaben 1,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus. Die NATO erwartet 2 Prozent. Das heißt, trotz aller Aufrüstungsbemühungen der letzten Jahre bei der Bundeswehr erreichen wir das noch nicht. Auf der anderen Seite ist das Ziel der Bundesregierung, für Entwicklungszusammenarbeit 0,7 Prozent auszugeben, also noch nicht mal die Hälfte von dem, was wir in die Rüstung stecken. Eigentlich kann man das als kirchliche Organisationen nicht gutheißen, oder? 

Lüer: Nein, das gefällt uns natürlich nicht. Die sogenannte "Oder-Quote" von 0,7 Prozent ist eine Vereinbarung der Vereinten Nationen. Dass wir uns nicht daran halten, ist ein ganz schlechtes Zeichen und auch das falsche politische Zeichen. 

Ich bin ein bisschen skeptisch, ob man die finanziell hochintensive Sicherheitspolitik und Militärpolitik eins zu eins mit der Entwicklungspolitik vergleichen muss, weil es da auch Grenzen hat. Aber dennoch ist das für uns ein Hinweis darauf, dass wir die langfristigen Perspektiven eben nicht aus dem Blick verlieren dürfen und dass wir in die letztlich genauso investieren müssen wie in diese kurzfristige Stabilisierung und Auffangpolitik angesichts realer Gewalt und Gewaltdrohungen. 

Papst Franziskus / © Vatican Media/Romano Siciliani (KNA)
Papst Franziskus / © Vatican Media/Romano Siciliani ( KNA )

DOMRADIO.DE: Papst Franziskus sieht das Thema Rüstungspolitik sehr kritisch. Im August 2023 hat er dazu aufgerufen, Rüstungsausgaben zu verringern und "die Waffen niederzulegen". Vor kurzem gab er ein viel zitiertes Interview im Schweizer Fernsehen, wo er die Ukraine aufgerufen hat, "die weiße Flagge" zu zeigen. Eigentlich widerspricht das ja Ihrer Argumentation, oder?

Lüer: Sagen wir so: Ich bin Papst Franziskus dafür dankbar, dass er unserer Versuchung zur Gewöhnung an das Gewalthandeln immer entschieden entgegentritt. Da bin ich ganz dabei. Aber was dieses berühmte inkriminierte Interview mit der weißen Flagge angeht, so wird man konstatieren müssen - ich vermute mittlerweile auch im Vatikan -, dass das sehr unglücklich gelaufen ist.

Ganz objektiv wollte der Heilige Vater nicht davon sprechen, dass die Ukraine jetzt kapitulieren sollte, wie das schnell wahrgenommen wurde, sondern sie sollte mit einer weißen Flagge Verhandlungen anstreben. Dennoch ist das nur ein Ausschnitt dessen, worüber wir zu reden haben. 

Aber das Gute an der Weltkirche ist, dass wir darüber miteinander im Gespräch sind, auch zwischen den verschiedenen "Justitia et Pax"-Kommissionen. Die Stimmungen unserer Partner und im Süden Europas sind anders als die unserer Partner im Osten Europas.

Ich glaube, diesen Diskurs brauchen wir. Ich bin nicht mit jeder Äußerung von Papst Franziskus gleich glücklich. Aber es ist eben auch ein Beitrag zum Gespräch in der Kirche, wie wir uns gemeinsam konkret den Gewaltherausforderungen stellen. 

DOMRADIO.DE: Am Wochenende kam aus den USA die Meldung, dass nach monatelangem Hin und Her das Repräsentantenhaus die milliardenhohe militärische Unterstützung für die Ukraine freigegeben hat. Wie ist das denn einzuordnen, dass hier quasi mit dem Überleben eines Landes politisches Kalkül betrieben wird? 

Lüer: Es ist der Sache nicht im Mindesten gerecht. Es ist tief verletzend. Der Entscheidungsprozess, so nötig er ist, trägt letztlich auch zur Verunsicherung bei und stärkt all jene Gewaltunternehmer wie Wladimir Putin, die versuchen, mit der Gewalt zu spielen und darauf setzen, dass der Westen am Ende des Tages eben doch nicht stabil ist, dass er aus unterschiedlichen Gründen nicht durchhalten kann. 

Würde das wirklich am Ende so sein, wäre es ein katastrophales Zeichen und würde sehr viel mehr Unsicherheit in die Welt tragen, weil sich andere Gewaltunternehmer ermutigt fühlen würden, Ähnliches für ihre Dinge zu versuchen.

Wir haben so etwas in Aserbaidschan erlebt und wir sehen auch auf dem Balkan, wie manche schon wieder damit spielen, ob nicht doch auch gewaltsame Lösungen hilfreich sein können. 

Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.

Deutsche Kommission Justitia et Pax

Die Deutsche Kommission Justitia et Pax (Gerechtigkeit und Frieden) wurde 1967 gegründet und versteht sich als Forum der katholischen Einrichtungen und Organisationen, die im Bereich der internationalen Verantwortung der Kirche in Deutschland tätig sind. Justitia et Pax ist deren gemeinsame Stimme in Gesellschaft und Politik und damit Akteurin des politischen Dialogs. Darüber hinaus ist die Deutsche Kommission Bestandteil eines weltweiten Netzwerkes nationaler und regionaler Justitia-et-Pax-Kommissionen.. (Justitia et Pax)

Justitia steht für Gerechtigkeit  / © Daniel Reinhardt (dpa)
Justitia steht für Gerechtigkeit / © Daniel Reinhardt ( dpa )
Quelle:
DR