DOMRADIO.DE: Schon vor fünf Jahren hat Kardinal Schönborn dem Papst seinen Rücktritt angeboten. Warum hat Franziskus den nicht angenommen?

Gudrun Sailer (Vatikanjournalistin aus Österreich): Kardinal Schönborn hat ordnungsgemäß vor seinem 75. Geburtstag dem Papst seinen Amtsverzicht angeboten. Aus gesundheitlichen Gründen wäre er gerne gegangen. Papst Franziskus verlängert oft viele Mandate von Kardinälen und Bischöfen um einige Jahre. Es scheint ziemlich evident, dass er gerade auf Kardinal Schönborn nicht verzichten wollte. Schönborn ist ein Kirchenmann mit 45 Jahren Vatikanerfahrung und damit Weltkirchenerfahrung.
Er ist ein großer Kopf als Theologe, vor allem aber auch als Brückenbauer zwischen verschiedenen Lagern der Kirche. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass Kardinal Schönborn der wichtigste Kardinal deutscher Sprache ist. Er ragt mit seiner weltkirchlichen Vernetzung, mit seinem ausgleichenden Wirken, mit seiner Überparteilichkeit und mit seinem intellektuellen Horizont heraus.
Schönborn hat Papst Franziskus in mehr als einer heiklen Sache beraten und Kohlen aus dem Feuer geholt. So jemanden lässt man möglichst lang im Amt.
DOMRADIO.DE: Was heißt Kohlen aus dem Feuer geholt?
Sailer: Ein Beispiel wäre die Frage der wiederverheirateten Geschiedenen und ihren Zugang zu den Sakramenten. 2015/16 gab es im Vatikan eine Bischofssynode zum Thema Familie. Kardinal Schönborn hat daran teilgenommen. Am Ende war der schwierigste Knoten bei dieser Familiensynode das Thema des Empfanges der Eucharistie für geschiedene und zivil wiederverheiratete Gläubige. Der Papst wünschte sich eine pastorale Lösung. In der Arbeitsrunde der deutschsprachigen Synodalen wurde eine pastorale Lösung als Kompromiss gefunden.

Dort saßen theologische Schwergewichte ganz unterschiedlicher Ausrichtung. Dabei waren Kardinal Müller, damals Präfekt der Glaubenskongregation, Kardinal Koch, Kardinal Marx und weitere. Moderiert hat Kardinal Schönborn, der in Wien schon Jahre vorher einen pastoralen Weg zum Empfang der Sakramente für diese Gläubigen eröffnet hatte.
Dieser von Schönborn moderierte und gefundene Kompromiss hat Eingang ins Papstdokument "Amoris Laetitia" in einer entscheidenden Fußnote gefunden. Als kritische Rückfragen aufkamen, verwies Papst Franziskus auf Kardinal Schönborn statt auf Kardinal Müller.
Das ist nur eines von vielen Beispielen, das zeigt, warum Franziskus so lange wie möglich auf die Mitarbeit von Kardinal Schönborn zählen wollte – besonders auch bei der letzten Synode zum Thema Synodalität.
DOMRADIO.DE: Der Kardinal hat sich häufiger auch zu gesellschaftlichen und aktuellen Themen geäußert. Wie gestalteten sich diese Äußerungen?
Sailer: Gerade vor zwei Wochen hat der Kardinal zusammen mit dem Wiener Oberrabbiner und dem Vertreter des Islams eine gemeinsame Erklärung der Religionen unterzeichnet, die sich wie ein Vermächtnis liest, ein Bekenntnis für friedliches Zusammenleben der Religionen. Kardinal Schönborn ist immer eine Stimme der Mitte gewesen, eine Stimme, die aus dem Grund des Glaubens heraus um die Mitte geworben hat, in einem Land wie Österreich mit teils politisch sehr rechten Tendenzen.
Er hatte eine Kolumne in einer Gratiszeitung. Die hat er regelmäßig dazu genutzt, auf ganz einfache menschliche Weisung, gegenseitiges Verständnis zu werben. Für Schönborn ist immer gleichsam das ganz Große und das ganz Kleine zusammengekommen.
Er ist ein herausragender Theologe, übrigens ein Schüler von Ratzinger, ein bedeutender Intellektueller seines Landes, der den Dialog mit Künstlern, sogenannten Kirchenfernen und internationalen Politikern suchte. Er spricht fünf Sprachen, hielt Vorträge und führte Debatten auf allen Kontinenten, wobei er stets die Aufmerksamkeit für das Menschliche pflegte – für das Gute im Realen, im Kleinen, im Alltäglichen.
DOMRADIO.DE: Sie kennen den Kardinal von seinen Besuchen in Rom persönlich. Wie haben Sie ihn so erlebt?
Sailer: Kardinal Schönborn ist freundlich. Er spricht leise und langsam. Er hört gut zu. Er hat etwas sehr verbindliches. Wenn er jedoch etwas zu kritisieren hat, tut er dies auf eine Weise, die klar und gleichzeitig freundlich bleibt. Er schont niemanden, aber er verteidigt diejenigen und das, was ihm wichtig ist.
Ich habe ihn mit seinen Mitbrüdern beim letzten Besuch der Österreichischen Bischofskonferenz im Dezember 2022 erlebt. Er war nicht mehr Vorsitzender der Bischofskonferenz, aber trotzdem der Leiter, zu dem alle schauen - übrigens auch auf vatikanischer Seite.
Schönborn hat eben auch 45 Jahre Vatikanerfahrung. Mehr als die Hälfte seines Lebens schon hat er Aufgaben im Vatikan wahrgenommen. Er weiß, wie man es macht in Rom. Die Österreichische Bischofskonferenz ist auch dank seines Wirkens eine Gruppe, von der man den Eindruck hat, dass sie geeint ist. Man würde sich eine solche Figur wie Kardinal Schönborn auch in anderen Bischofskonferenzen wünschen.
Das Interview führte Tobias Fricke.