Indigene Bevölkerung kritisiert Papst-Entschuldigung

Erwartungen der Indigenen in Kanada

Die Bitte um Vergebung hat die indigene Bevölkerung Kanadas emotional berührt. Doch gibt es auch Kritik am Schweigen zur Schuld der Kirche als solcher sowie zur sogenannten "Doktrin der Entdeckung" - der religiösen Kolonisierung.

Autor/in:
Von Severina Bartonitschek und Roland Juchem
Häuptlinge indigener Völker hören der Andacht des Papstes am Lac Ste. Anne zu / © Eric Gay (dpa)
Häuptlinge indigener Völker hören der Andacht des Papstes am Lac Ste. Anne zu / © Eric Gay ( dpa )

"Ich bitte demütig um Vergebung für das Böse, das von so vielen Christen an den indigenen Bevölkerungen begangen wurde", sagte das katholische Kirchenoberhaupt am Montag vor Überlebenden früherer Residential Schools auf dem Gelände einer der größten dieser Internatsschulen in Maskwacis/Alberta. Daher, so der Papst weiter, "kniet die Kirche vor Gott nieder und bittet um Vergebung für die Sünden ihrer Kinder".

Reichen diese Formulierungen als Vergebungsbitte aus? Als Entschuldigung für die Schuld "der Kirche" am katastrophalen System der kanadischen Residential Schools, das Generationen indigener Menschen traumatisierte, Kinder ihren Familien entriss und sie ihrer Kultur beraubte? Dies ist eine Frage, die kanadische, vor allem indigene Kommentatoren wie Teilnehmer der Papsttreffen beschäftigte. Hat die Kirche als Ganze gesündigt?

Wo beginnt Sünde?

Franziskus selber hat zu anderen Gelegenheiten mehrfach gesagt, die Kirche selber sei heilig, sie sündige nicht. Wohl aber ihre Mitglieder. Das dürfte Nicht-Theologen schwer zu vermitteln sein. Waren es nicht Bischöfe und Ordensobere, die Abkommen mit Regierungsbehörden schlossen, um die Schulen zu betreiben? Indigene Priester wie Pfarrer Daryold Winkler, selbst Überlebender der Residential Schools, sind hin- und hergerissen.

Die Kirche? Zur Kirche gehören Täter, Opfer und Unbeteiligte. Das war und ist verteilte Verantwortung für begangenes Unrecht. Immerhin, so räumten skeptische Kommentatoren ein, könne nach dem "Besuch des obersten Boss" in Kanada niemand in der katholischen Kirche mehr behaupten, das Thema nicht zu kennen.

Formelle Entschuldigung

Jedenfalls erfüllte Franziskus am Montag eine Forderung der kanadischen Wahrheits- und Versöhnungskommission von 2015, die helfen sollte, das Unrecht der Residential Schools aufzuarbeiten. Dort heißt es in Artikel 58, der Papst solle "sich bei den Überlebenden, ihren Familien und Gemeinschaften für die Rolle der römisch-katholischen Kirche beim spirituellen, kulturellen, emotionalen, körperlichen und sexuellen Missbrauch ... in katholisch geführten Internatsschulen" entschuldigen.

Papst an Indigene: Kirche kniet nieder und bittet um Vergebung

Papst Franziskus hat mit einer ausführlichen Vergebungsbitte an Indigene seine "Bußwallfahrt" in Kanada begonnen. "Ich bitte demütig um Vergebung für das Böse, das von so vielen Christen an den indigenen Bevölkerungen begangen wurde", sagte das katholische Kirchenoberhaupt am Montagvormittag (Ortszeit) vor Überlebenden früherer "Residential Schools" auf dem Gelände einer der größten dieser Internatsschulen in Maskwacis/Alberta.

Papst Franziskus betet auf dem Friedhof der Ermineskin Cree Nation zwischen den Gräbern der Schüler der Ermineskin Indian Residential School. / © Paul Haring (dpa)
Papst Franziskus betet auf dem Friedhof der Ermineskin Cree Nation zwischen den Gräbern der Schüler der Ermineskin Indian Residential School. / © Paul Haring ( dpa )

Die zweite, eher akademisch geführte Kritik an Franziskus in Kanada: Er sagt (bisher) nichts zur "doctrine of discovery" (Doktrin der Entdeckung). Verstanden wird darunter ein religiös inspiriertes Kolonisierungsbewusstsein sowie eine daraus entstandene Rechtsauffassung, mit der europäische Entdecker, Eroberer und Kolonialregierungen sich anmaßten, indigene Bewohner zu verdrängen, zu entrechten und sich ihr Land anzueignen.

Katholischen Glauben verbreiten

Den theologischen Ursprung dieser Ideologie sehen Historiker in mehreren päpstlichen Lehrschreiben des 15. und 16. Jahrhunderts. Das bekannteste ist die Bulle "Inter Caetera" Alexanders VI. von 1493. Kurz nach der Rückkehr von Christoph Kolumbus aus Amerika schrieb der Papst: Die europäischen Nationen sollten sich vorrangig darum bemühen, dass "vor allem der katholische Glaube und die christliche Religion verherrlicht und überall vermehrt und verbreitet werden". "Barbarische Nationen" sollten "gestürzt und zum Glauben selbst gebracht werden". Der Papst ernannte Europas katholische Herrscher zu "Herren mit voller und freier Macht, Autorität und Gerichtsbarkeit jeder Art" über indigene Völker.

Dabei stützte er sich auf das aufkommende Konzept der "terra nullius" (leeres Land). Jeder Ort, der nicht bereits von Christen besetzt war, wurde als frei für die christlichen Europäer betrachtet - unabhängig davon, wie viele Menschen dort bereits lebten oder wie weit ihre Zivilisationen fortgeschritten waren.

In der weiteren Kolonialgeschichte floss dieses Denken in die Politik und Gesetzgebung anderer, auch nicht-katholischer Kolonialmächte ein. Es fand Einzug in Entscheidungen oberster Gerichte in USA und Kanada. Bis heute, so sagen Fachleute, liege es kanadischen Gesetzen zugrunde, verhindere, dass indigene Menschen ihr Recht erhielten. Daher müsse der Papst die Bulle Alexanders VI. und ähnliche Schriften explizit widerrufen.

Bisher wiesen vatikanische Vertreter bei UN-Konferenzen zu indigenen Völkern darauf hin, dass solche früheren Schriften de facto überholt seien. Inzwischen gebe es Dutzende entgegengesetzter Äußerungen von Päpsten zu Kolonialismus und den Rechten indigener Völker.

In der Pfarrei Sacred Heart in Edmonton am Montag sagte Franziskus mit Blick auf kirchlich-koloniale Schuld: "Man kann Gott nicht auf eine Weise verkünden, die im Widerspruch zu Gott steht. Doch wie oft ist das in der Geschichte schon passiert! (...) Im Namen Jesu, dies möge in der Kirche nicht mehr vorkommen. Jesus soll so verkündet werden, wie er es wünscht, in Freiheit und Nächstenliebe ...".

Entschädigung für erlittenes Leid?

Auch die weitere Öffnung kirchlicher Archive, Entschädigungszahlungen oder Rückgabe indigener Artefakte aus kirchlichen Museen werden kaum explizites Thema seiner Ansprachen. So etwas wird eher aus der begleitenden Delegation heraus angesprochen. Für Franziskus geschieht eigentliche Versöhnung andernorts: "Gesten und Besuche mögen wichtig sein, aber die meisten Worte und Aktivitäten der Versöhnung finden vor Ort statt, in Gemeinschaften, wo Menschen und Familien Tag für Tag Seite an Seite leben. Zusammen zu beten, zusammen zu helfen, Lebensgeschichten, Freuden und gemeinsame Kämpfe auszutauschen ...".

Papst Franziskus begrüßt einen indigenen Vertreter bei seiner Ankunft am Internationalen Flughafen Edmonton am 24. Juli 2022 in Edmonton, Kanada.  / © Romano Siciliani (KNA)
Papst Franziskus begrüßt einen indigenen Vertreter bei seiner Ankunft am Internationalen Flughafen Edmonton am 24. Juli 2022 in Edmonton, Kanada. / © Romano Siciliani ( KNA )

"Es dauerte 50 Jahre, bis ich diese Entschuldigungsbitte hörte", sagte eine Überlebende dem Fernsehsender CBC, der die Papstreise ausführlich begleitet. Wie bei vielen sind ihr die Erleichterung ebenso anzumerken wie der Frust, dass es so lange dauerte. Schon bevor 1996 die letzte Schule dieser Art geschlossen wurde, hatten ehemalige Schüler Anerkennung und Entschädigungen gefordert.

Dies führte 2007 zum "Indian Residential Schools Settlement Agreement" und 2008 zu einer formellen öffentlichen Entschuldigung durch Premierminister Stephen Harper. Andere Kirchen folgten; die katholischen Bischöfe begannen erst vor wenigen Jahren ihre "Reise der Versöhnung und Heilung".

Versöhnung und Heilung

Der Papst konnte allgemein um Vergebung bitten. Gewähren können diese nur einzelne, die Überlebenden und ihre Angehörigen. Darauf wiesen in Kanada alle Kommentatoren hin. "Jeder von uns ist auf seinem eigenen Weg der Heilung", betonte die indigene Kolumnistin Tanya Talaga im kanadischen Fernsehen immer wieder.

Papst Franziskus trägt einen indigenen Kopfschmuck / © Nathan Denette (dpa)
Papst Franziskus trägt einen indigenen Kopfschmuck / © Nathan Denette ( dpa )

So wurde auch die großzügige Geste von Chief Wilton Littlechild, Vorkämpfer für die Aufarbeitung des Unrechts der Assimilierung, dem Papst einen Feder-Kopfschmuck aufzusetzen, kontrovers bewertet. Manche hielten sie für deutlich verfrüht, andere für angemessen und waren dankbar.

Befragt von einer Reporterin des Senders CBC sagte Andre Tautu, ein Inuit in Iqaluit, er akzeptiere die Entschuldigungsbitte des Papstes und könne nun seinerseits vergeben. "Ich hoffe, dass ich nun meine Wunden überwinden und meiner Frau ein besserer Mann, meinen Kindern ein besserer Vater und Großvater sein kann", fügte er sichtlich gerührt hinzu. Das habe er in seinem Leben nicht immer sein können - wegen der erlittenen Traumata. Längst nicht alle sind schon so weit. Das Thema Christianisierung und Kolonialgeschichte ist noch lange nicht abgeschlossen.

Quelle:
KNA
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