"Ich starre immer völlig begeistert auf diesen Altar", schwärmt Hanns-Josef Ortheil. Auf dem Weg zur Frankfurter Buchmesse besucht uns der Bestsellerautor im Domradio. Mit dem Altar meint er den Lochner Altar der Kölner Stadtpatrone in der Marienkapelle der Kathedrale. Wenn Ortheil in der Stadt ist, gehört der Besuch im Dom für den gebürtigen Kölner einfach dazu. Sein Lieblingsplatz ist die Marienkapelle vor dem Lochner Altar. Das sei eine sehr geborgene Ecke, ein abgetrennter Platz im oft trubeligen Dom, sagt er. "Obwohl ich jedes Detail des Altars kenne, bin ich immer noch völlig begeistert. Jede Einzelheit vermittelt einen Glaubensinhalt, jedes Gänseblümchen auf dem Bild will etwas sagen".
Ortheil ist auf Lesereise, um sein neues Buch "Schwebebahnen" vorzustellen. Ein autobiografisch geprägter Roman über seine Grundschulzeit in Wuppertal. Nach schweren Schicksalsschlägen hat die Familie Köln verlassen, um in Wuppertal ein zweites Leben zu beginnen. Der kleine Josef ist ein schüchternes Kind, das sich oft einsam fühlt und nur schwer Kontakt zu anderen Kindern findet. Dann lernt er das Mädchen Rosa, "Mücke" genannt, kennen und es entwickelt sich eine intensive Freundschaft.
"Die Menschen sind verunsichert"
Der Roman spielt in den fünfziger Jahren, einer Zeit, in der der Krieg noch ganz nah war und die Angst vor einer ungewissen Zukunft groß. "Ich bin entsetzt, weil mir die Erinnerung klar gemacht hat, wie nah uns diese Zeit heute ist", sagt der Autor. Jetzt sei dieses intensive Gefühl der Bedrohung wieder da. "Die Menschen sind verunsichert und erleben wie damals starke Angstmomente". Trost erfahren die Familien in Ortheils Roman auch in den katholischen Ritualen, die dem Leben eine Struktur und Ordnung geben. "Nicht, indem man sich den Ritualen unterwirft, sondern indem man aus den Ritualen etwas zieht, was einem helfen kann, schmerzhafte Erfahrungen zu überstehen", sagt er.
In "Schwebebahnen" lässt der Autor die katholische Welt der 50er Jahre lebendig werden. Der Kölner Kardinal Joseph Frings holte 1953 Patres des Kreuzherrenordens nach Wuppertal und die Patres gingen von Haus zu Haus und erkundigten sich nach den Sorgen und Nöten der Familien. So ging auch ein Pater, im Roman heißt er Pater de Kok, bei der Familie Ortheil ein und aus. De Kok ist ein sympathischer Priester, der zum Freund der Familie wird. Der kleine Josef wird nach der Kommunion Messdiener.
Hanns-Josef Ortheil erinnert sich gern an die Zeit als Kind in der Kirche. Als Messdiener sei er auf einmal ganz nah am Altar gewesen. "Man kreiste ja mit dem Priester um den Altar und hatte kleine Aufgaben, Wein und Wasser durften wir herantragen oder das Weihrauchfass schwenken". Für ihn sei das eine ungeheure Intensivierung der Messfeier gewesen. Auch die Beichte hat er als etwas sehr Besonderes erlebt, das er heute als eine Frühform des therapeutischen Gesprächs bezeichnet. "In einem Raum der Verschwiegenheit wurde ich zum ersten Mal gefragt, wie ich lebe, wie ich denke. Ich durfte sagen, was ich wollte ohne Anforderungen von außen".
In seinem Roman "Schwebebahnen" nimmt uns Ortheil mit in die Glaubenswelt eines Kindes, in der Schutzengel in dem Sinne real sind, dass man mit ihnen sprechen kann. "Das sind ideale Figuren, die den Kindern beibringen können, mit sich selbst umzugehen", sagt Ortheil und stellt in seinem Roman den Kindern Josef und Rosa, ihre behütende Schutzengel, an die Seite.
"Irgendwo hört das Wissen auf"
"Gottvertrauen ist das stärkste Vertrauen überhaupt", lässt Ortheil einen Priester in dem Roman sagen. Schnell kommt man mit ihm darüber ins Gespräch, was es bedeutet, Gott zu vertrauen. "Irgendwo hört das Wissen auf", sagt der Autor, "und wir müssen die Dinge glauben. Und da geht es um das Moment des Vertrauens". Im Moment des Glaubens könne man so eine Sicherheit finden, ist er überzeugt.
Sein Roman "Schwebebahnen" ist ein bewegendes Buch, das uns die 50er Jahre nahe bringt, das aber auch, ganz unabhängig vom historischen Setting, von den Ängsten und Nöten eines Kindes erzählt, die zeitlos sind - und die durch die Geborgenheit von Freunden und Familie gebändigt werden.