DOMRADIO.DE: Revolution oder Enttäuschung? Wie kann man das Pontifikat von Franziskus nach zwölf Jahren einordnen?

Renardo Schlegelmilch (Chefredakteur DOMRADIO.DE): Ich würde sagen, das Pontifikat von Franziskus war und ist revolutionär. Aber auf einer anderen Ebene, als sich das der eine oder andere erhofft hatte. Ich kann mich noch genau an die Kommentare nach der Papstwahl erinnern. Es hieß, dass mit einem Papst "Franziskus" der Zölibat Vergangenheit sei und dann Frauen zu Priestern geweiht werden.
Das ist alles bis jetzt nicht passiert. Aber die Herangehensweise, wie die Institution Kirche ihre Botschaft lebt, hat sich verändert. Franziskus hat dieses wunderbare Zitat geprägt, dass die Kirche "an die Ränder" gehen müsse. Er spricht von der Kirche als "Feldlazarett". Man kann sagen, dass er das in jeder Faser seines Seins in diesem Pontifikat lebt.
Wir erinnern uns an Bilder, wie er einen schwerstbehinderten Menschen bei der Generalaudienz herzlich in den Arm genommen hat. Oder wie er bei seiner allerersten Reise nicht zu wichtigen Politikern, sondern zur Flüchtlingsinsel Lampedusa gefahren ist, um dort einen Kranz für Ertrunkene ins Wasser zu werfen. Ich glaube, das hat den Menschen in aller Welt bewusst gemacht, wofür Kirche steht und wie Kirche in der modernen Zeit aussehen sollte.
DOMRADIO.DE: In den Fragen der kirchlichen Lehre hat sich nichts Dramatisches verändert. An welchen Stellen hat Franziskus die Kirche dennoch nach vorne gebracht?
Schlegelmilch: Es sind viele kleine Schritte, die er gegangen ist. In den letzten zwei Jahren wurde viel über die Weltsynode gesprochen und über die Frage nach dem Segen für homosexuelle Paare. Die Lehre wurde nicht grundsätzlich geändert, aber der Papst hat mit "Fiducia supplicans" quasi beiläufig Dokument veröffentlicht, das den Segen "durch die Hintertür" zugelassen hat.
Wir erinnern uns auch an "Amoris laetitia" aus dem Jahr 2016. In einer Fußnote hat er dort die Kommunion für wiederverheiratete Geschiedene geöffnet. Ähnliches beim Zugang von Protestanten zur Kommunion. Der evangelischen Gemeinde in Rom hat er gesagt, die Menschen sollen schauen, was in ihrem Herzen liegt und danach handeln sollen. Es war also nicht mehr zu 100 Prozent verboten.
Bei dem wichtigen Thema Frauen in der Kirche ist Papst Franziskus nicht hingegangen und hat allen Frauen die gleichen Rechte zur Weihe verliehen wie den Männern. Aber er hat die Führungsämter zum Beispiel in der Kurie an allen Stellen geöffnet, wo nicht explizit eine Weihe festgeschrieben ist. Deswegen haben wir seit Anfang März eine offizielle Regierungschefin für den Vatikanstaat.
Das sind die kleinen Schritte des Franziskus, die klar machen, dass sich die Kirche doch verändern kann. Innerhalb der gegebenen Richtlinien soll man die Schritte, die man gehen kann, auch gehen. Ich glaube, dass das die Franziskus-Philosophie ist.
DOMRADIO.DE: In einigen Kreisen wurde aber nicht immer nur wohlwollend auf Franziskus geblickt. Was hat er am Bild der Kirche nach außen verändert?
Schlegelmilch: Zum Beispiel hat der Papst das Bild von Kirche während eines Besuchs in Washington verändert, als er in einem alten, verbeulten Fiat am Weißen Haus vorgefahren ist und nicht mit einem großen weißen Limousinen-Tross. Dieses Bild der bescheidenen Kirche, die die Armen in den Mittelpunkt stellt, spielt eine große Rolle.
Ein Aspekt, der manchmal gerade bei uns in Deutschland untergeht, ist die Annäherung zum Islam. Das spielt eine sehr große Rolle. Wir erinnern uns an das Treffen mit Großscheich Ahmad al-Tayyib in Abu Dhabi vor ein paar Jahren. Dort haben die beiden das Dokument zur Brüderlichkeit der Menschen unterzeichnet. Das hat dazu geführt, dass Franziskus im Islam eine anerkannte moralische Autorität ist, wie das frühere Päpste nicht waren.
DOMRADIO.DE: Wir haben gerade erlebt, wie die Welt Anteil nimmt, wenn der Papst mit einer schweren Erkrankung in der Klinik liegt. Seit einem knappen Monat ist er nicht mehr in der Öffentlichkeit aufgetreten. Welches Bild gibt er in dieser Phase des Pontifikats ab?
Schlegelmilch: Das ist ein ungewöhnliches, aber authentisches Bild. Die Statements, die in den letzten Wochen aus dem Vatikan gekommen sind, waren teilweise sehr detailliert. Dort wurden Dinge wie "Schleimabsaugung aus der Lunge" und "akute Atemnot" thematisiert.
Früher sagte man, dass ein Papst nie krank sei, bis er tot sei. Das war noch die Logik unter Johannes Paul II. Demnach gibt man keine Interna über den Gesundheitszustand heraus. Franziskus hat auch in diesem Fall entschieden, dass den Leuten einfach gesagt werden soll, wie es ihm geht. Der Grund ist einfach: Dann entstehen keine falschen Gerüchte oder Vermutungen.
In der vergangenen Woche gab es eine Sprachnachricht, die der Papst vom Krankenbett zu den Gläubigen auf den Petersplatz geschickt hat. Das haben natürlich einige gefragt, ob man das überhaupt öffentlich machen sollte, wenn der Papst so fertig und kaputt klingt. Doch auch das ist die Logik von Franziskus. Es geht nicht darum, ein Bild von der Institution des Papstes aufrechtzuerhalten, sondern den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen.
Das Interview führte Tobias Fricke.