DOMRADIO.DE: Gefällt Ihnen die Lichtprojektion, die an die Verhüllung des Reichstags in Berlin vor 30 Jahren erinnert?

Dr. Dominik Meiering (Domkapitular und Leitender Pfarrer in Köln-Mitte): Als ich zuerst über dieses Kunstprojekt etwas gelesen habe, dachte ich, dass man so etwas nicht wiederholen kann. Aber als ich jetzt die ersten Bilder gesehen habe, muss ich sagen, bin ich ganz beeindruckt. Es ist nicht der Versuch, noch einmal die Kunstaktion von Christo zu imitieren, sondern es ist eine ganz eigene, selbstständige Installation. Und die ist spektakulär, das kann man nicht anders sagen.
DOMRADIO.DE: Damals vor 30 Jahren war die deutsche Wiedervereinigung noch nicht so lange her. Der Umzug von Bonn nach Berlin stand kurz bevor. Warum passte Christos Kunstaktion damals genau in die Zeit?
Meiering: Christo hatte schon Jahrzehnte vorher versucht, den Reichstag zu verhüllen. Er hat immer die Idee gehabt, ein Parlamentsgebäude einmal so zu verfremden, dass es in seiner Bedeutung in Frage gestellt wird. Und was bot sich dafür mehr an als der Reichstag an der deutsch-deutschen Grenze. Das ist das Gebäude, an dem sich deutsche Geschichte wie an keinem anderen Ort widerspiegelt?
Und so hat er gesagt, jetzt, wo es kurz davor steht, dass die Bundeshauptstadt wieder nach Berlin wechselt, ist der Augenblick da, wo wir das schaffen könnten. Rita Süssmuth als damalige Bundestagspräsidentin hat ihn sehr unterstützt. So ist es dann dazu gekommen.
Ich erinnere mich an dieses wunderbare Erlebnis, ich bin selbst dort gewesen und Tausende von Menschen waren mit mir da und haben dieses wunderschöne sommerliche Fest gefeiert.

DOMRADIO.DE: Heute erleben wir wieder eine Zeit voller Umbrüche. Da könnte die Lichtprojektion am Reichstag auch ein Kunstwerk sein, das zeigt, wie fragil Demokratie sein kann und wie sehr etwas plötzlich in einem ganz anderen Licht erscheinen kann.
Meiering: Christo hat den Reichstag damals gewählt, weil er gesagt hat, der Reichstag spiegelt große Teile der deutschen Geschichte. Also angefangen von der Kaiserzeit, wo Kaiser Wilhelm den Reichstag eine Schwatzbude und ein Affenhaus nannte. Dann kennen wir alle den von den Nazis angezündeten Reichstag 1933. Wir erinnern uns, wie die rote Fahne der russischen Soldaten auf dem Reichstag 1945 aufgestellt wurde. Weiter erinnern wir uns daran, wie dann die Einheit Deutschlands 1990 gefeiert wurde. All das vor dem Hintergrund dieses Reichstags. Wenn man so will, ist also in diesem Reichstagsgebäude die deutsche Geschichte aufbewahrt - mit allen Höhen und Tiefen.
Als Christo den Reichstag verhüllt hat, sagte er, dass es eine moderne Demokratie in Deutschland ist und dass das kunstsinnige, weltoffene Menschen in Deutschland sind. Er hat diese Frage der Verhüllung des Reichstag mit der Frage verbunden, ob wir dazu bereit sind, uns dazu zu bekennen.

Wenn man heute, 30 Jahre später, noch einmal darauf Bezug nimmt, dann wird deutlich, dass sich auch heute die Frage stellt, was wir denn für eine Demokratie sind? Ob wir denn weltoffen sind und ob wir die Fähigkeit haben, unsere eigene Geschichte wahrzunehmen und sie als Erbe und vor allen Dingen auch als Herausforderung immer wieder neu zu akzeptieren. Ich denke vor allen Dingen an die rechtsnationale Geschichte, die mit dem Reichstag verbunden ist.
Von daher finde ich es schon sinnvoll, dass das auch heute nicht nur ein schönes Kunst-Event ist, sondern auch zum Nachdenken anregt.
DOMRADIO.DE: In Ihrem Buch "Verhüllen und Offenbaren - Der verhüllte Reichstag von Christo und Jean Claude und seine Parallelen in der Tradition der Kirche" thematisieren sie Parallelen der Verhüllung zur Tradition der Kirche. Wo zeigen sich denn in der Verhüllung Bezüge zur Religion und zum Christentum?
Meiering: Es gibt einen ganz wunderschönen Artikel in der Süddeutschen Zeitung von 1996. Ich lese mal einige Zeilen daraus vor: "Auch wenn Christo nicht Christo hieße, könnte man nicht anders als die Wunder, die er in Deutschland vollbracht hat, mit biblischen Ereignissen in Verbindung zu bringen. Als wir im Januar 1993 Christos später Auferstehung feierten, konnten wir einen gewissen Sarkasmus nicht unterdrücken. 20 Jahre lang war der Verpackungsartist Christo mit seinem hochsymbolischen Projekt Reichstag zwischen Bonn und Berlin von Pontius zu Pilatus gezogen. Aber er hat bei den Politikern nur Schimpf und Schande geerntet für sein weiches Kunstobjekt an der deutsch-deutschen Klagemauer".
Das ist eine Beschreibung der Reichstagsverhüllung mit religiösen Begriffen. Dahinter steckt natürlich, dass Religion immer von etwas spricht, was nicht ausgesagt werden kann, sondern der Gott, den wir von Jesus Christus geoffenbart bekommen haben, ist der Verborgene, der Unendliche, der Ewige. Wir versuchen hinter den Schleier zu treten, wir versuchen hinter dem Vorhang zu blicken und wir wissen doch, wir können es nicht, weil dieser Gott immer der Unzugängliche bleibt.
Natürlich hat er sich in Jesus Christus, so glauben wir Christen, wirklich und wahrhaftig menschlich geoffenbart, aber gleichzeitig wissen wir auch, dass wir ihn nicht mit Händen greifen, festhalten können.
DOMRADIO.DE: Das findet auch Einzug in die Zeichensprache der katholischen Kirche, der Liturgie. Wenn wir an den Tabernakel denken, wenn wir an die Monstranzen denken, die das Allerheiligste verhüllen.
Meiering: Genau, weil wir gar nicht anders über Gott sprechen können als in Verhüllung.
DOMRADIO: Es gibt Bilder von Christo aus dem Jahr 1992, die auch den Kölner Dom verhüllt zeigen. Hatte er das vor?
Meiering: Die Bilder stammen ursprünglich aus dem Jahr 1980. Damals haben wir die 100-Jahr-Feier zu Vollendung des Kölner Doms gefeiert. Da hat man viele Künstler aufgefordert, etwas beizutragen. "Mein Kölner Dom" hieß der Titel der Aktion. Christo hat dann in der Tat auf einer Zeichnung den Kölner Dom verhüllt. Er hat das 1992 noch einmal aufgelegt. Aber das ist natürlich nie ein Projekt gewesen, was ausgeführt werden sollte, sondern das war Konzeptkunst.

Christo hat natürlich genau kapiert, dass der Kölner Dom eine Hülle für den Schrein der Drei Könige ist, der ja auch für die Heiligen Drei Könige und die Knochen der Heiligen Drei Könige eine Verhüllung für die Möglichkeit der Begegnung mit Gott ist. Darum geht es ja. All diese Hüllen, durch die man sich wie durch Zwiebelschalen durchkämpft, die helfen, dass man am Ende zu diesem Kern kommt, nämlich der Möglichkeit, Gott zu begegnen.
DOMRADIO.DE: Können Sie sich denn vorstellen, dass auch mal eine Kirche verhüllt wird?
Meiering: Ja, warum nicht? Das sind natürlich immer Riesenprojekte und sie sind sehr kostenintensiv. Vielleicht sind die Kirchen, die wir in Köln haben, auch alle gar nicht dafür geeignet. Aber die Grundidee finde ich schon nicht schlecht. Immerhin machen wir ganz bewusst in der Fastenzeit in Köln-Mitte seit drei Jahren immer wieder Ausstellungen, wo auch Fastentücher dabei sind, wo in den Kirchen einzelne Teile verhüllt werden und wir damit an die mittelalterliche Fasten-Tradition anknüpfen.
Das Interview führte Johannes Schröer.