Die "Unterschichtendebatte" treibt bizarre Blüten

Die Suche nach dem Schuldigen

In der so genannten Unterschichtendebatte sind Politiker aller Parteien weiter auf der Suche nach den Verantwortlichen für die wachsende Armut in Deutschland. In einer von Linken und Grünen beantragten aktuellen Stunde des Parlaments am Donnerstag prallten die Argumente von Koalition und Opposition aufeinander.

 (DR)

In der so genannten Unterschichtendebatte sind Politiker aller Parteien weiter auf der Suche nach den Verantwortlichen für die wachsende Armut in Deutschland. In einer von Linken und Grünen beantragten aktuellen Stunde des Parlaments am Donnerstag prallten die Argumente von Koalition und Opposition aufeinander. - Der neue Präsident des Diakonischen Werks hat in einem Zeitungsinterview die aktuelle Debatte als "positiv" bezeichnet. - Dr. Michael Rutz, Chefredakteur des Rheinischen Merkurs, kritisierte im domradio-Interview die aktuelle Debatte als "oberflächlich".

Kottnik: "Es ist gut, dass die Probleme nun offenliegen"
Der neue Präsident des Diakonischen Werks, Klaus-Dieter Kottnik, begrüßt die Debatte über Unterschicht, Armut und prekäre Lebenslagen . "Es ist gut, dass nun offenliegt, dass man all die wichtigen Probleme zu sehr vernachlässigt hat", sagte Kottnik der "Frankfurter Rundschau". Zu lange seien Hilfsbedürftige nur als Kostenfaktor angesehen worden. "Menschen, die Hilfe brauchen, sind aber nicht nur Kostgänger der Gesellschaft", betonte Kottnik.

Er hoffe sehr, "dass es nicht nur bei einer Ein-oder Zwei-Wochen-Debatte bleibt, sondern dass nun auch Konsequenzen gezogen werden." In seiner Funktion wolle er gern daran mitwirken, sagte der Chef des Diakonischen Werkes.

Wiedervereinigung und Gesellschaft der DDR als Ursache
Merkur-Chefredakteur Michael Rutz sieht einen Grund für die Entstehung der neuen Unterschicht in der deutschen Wiedervereinigung. In den neuen Bundesländern hätte von Anfang an Misstrauen gegen allzu viel Freiheit und gegen eine Marktwirtschaft, die auf Eigeninitiative setzt, vorgeherrscht. Dadurch sei eine Apathie entstanden.

Daneben seien mangelnde Bildung, Männer, die sich aus der Erziehung der Kinder heraushalten und nicht zuletzt zerfallende Familien, Gründe für die aktuelle Situation, in der 20 Prozent der Ostdeutschen zu jener abgekoppelten, lethargischen Gruppe "Unterschicht" gezählt werden, und vier Prozent der Westdeutschen. Lesen Sie hier den Leitartikel.

Unterschichten im Bundestag - Politiker auf der Suche nach Verantwortlichen für neue Armut
Führende Gewerkschafter schreiben der Regierung unter Helmut Kohl (CDU) eine wesentliche Verantwortung für die Entstehung einer neuen Unterschicht in Deutschland zu. Der Berliner evangelische Bischof Wolfgang Huber kritisiert den Begriff "Unterschicht" als irreführend und diskriminierend.

Linkspartei.PDS-Vize Katja Kipping kritisierte eine Umverteilung von unten nach oben. Die soziale Ausgrenzung sei „nicht vom Himmel gefallen". Die „Wirtschaft und die herrschende politische Klasse" hätten diese mit der Ausweitung des Niedriglohnsektors massiv befördert, sagte Kipping und forderte einen Kurswechsel in der Arbeitsmarkts- und Sozialpolitik.

Grünen-Fraktionschef Fritz Kuhn sagte, die „Hartz IV"-Arbeitsmarktreformen seien nicht die Ursache des Problems, sondern hätten die verdeckte Armut deutlich reduziert. Er warf der Koalition allerdings vor, beim Fördern der Langzeitarbeitslosen „auf der Bremse" zu stehen. „Sie sind beim Fordern stark gewesen, aber beim Fördern sind sie abgestürzt", kritisierte Kuhn.

FDP-Generalsekretär Dirk Niebel sagte, die wachsende Armut in Deutschland sei das Ergebnis einer falschen Politik. Gegen die dauerhafte Massenarbeitslosigkeit hätten weder Rot-Grün noch die große Koalition das Richtige unternommen. „Es geht nicht um das weitere Verteilen von Staatsknete, sondern um eine wachstumsorientierte Politik." Statt Gieskannenförderung müsse ein Schwerpunkt auf frühkindliche Bildung gesetzt werden.

Der Unions-Sozialexperte Ralf Brauksiepe (CDU) warf Linken und Grünen vor, mit der aktuellen Stunde die Probleme nur vernebeln zu wollen. An die Adresse der Linkspartei.PDS sagte er mit Blick auf die DDR-Zeit: „Sie sind die Brandstifter, die sich hier als Feuerwehr aufführen". Auch die Vorgängerregierung von SPD und Grünen sei mitverantwortlich für Armut. Die große Koalition wolle nicht mit Vernebelungsdebatten, sondern mit konkreten Maßnahmen die Probleme beseitigen.

Der parlamentarische Arbeitsstaatssekretär Gerd Andres (SPD) verwies auf die sinkenden Arbeitslosenzahlen und hielt der Linkspartei „plumpen Populismus"vor. Die Sätze für „Hartz IV" seien ausreichend. Immer neue Kürzungsdebatten seien aber genauso verfehlt, sagte er an die Adresse der Union.

Der Chef des CDU-Arbeitnehmerflügels, Josef Laumann, warnte unterdessen in Zeitungsinterviews die CSU vor „Schuldzuweisungen" gegen SPD und Grüne. Mit solchen Vorwürfen müsse man "sehr vorsichtig" sein. Zugleich forderte der nordrhein-westfälische Sozialminister von der Union eine Kurskorrektur bei der anstehenden Überprüfung der „Hartz IV"-Reform. „Die Rhetorik, nur Druck zu machen, ist Quatsch", sagte Laumann.

Der SPD-Linke Detlev von Larcher machte Rot-Grün für die zunehmende Verarmung in der Gesellschaft verantwortlich. Die 'Agenda 2010' von Kanzler Gerhard Schröder (SPD) habe diese Entwicklung gefördert. Auch der ehemalige Grünen-Abgeordnete Werner Schulz sieht in den rot-grünen Arbeitsmarktreformen einen wesentlichen Grund für die zunehmende Armut.

Gewerkschaften: Verarmung hat Ursprung in Politik Helmut Kohls
Führende Gewerkschafter schreiben derweil der Regierung unter Helmut Kohl (CDU) eine wesentliche Verantwortung für die Entstehung einer neuen Unterschicht in Deutschland zu. „Die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich immer weiter", sagte ver.di-Vizechefin Margret Mönig-Raane der „Berliner Zeitung". Es werde höchste Zeit, dass die Politik die negativen Folgen ihres eigenen Handelns beseitigt. Ursprung der gesellschaftlichen Entwicklung sei die geistig-moralische Wende der schwarz-gelben Koalition in den Achtziger Jahren.

Bischof Huber: Begriff "Unterschicht" diskriminierend
Der Berliner evangelische Bischof Wolfgang Huber hat den Begriff "Unterschicht" als irreführend und diskriminierend kritisiert. Er lenke von der eigentlichen Aufgabe ab, Menschen in prekären Lebenssituationen neue Arbeits- und Lebensmöglichkeiten zu eröffnen, erklärte Huber im Berliner "Tagesspiegel"
(Donnerstagausgabe). Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland wandte sich auch gegen die Hartz IV-Reform. Sie sei für viele zu einer Rutschbahn geworden, auf der aus Dauerarbeitslosigkeit Armut werde. Dieses Problem zu lösen, sei eine Frage der gerechten Teilhabe an der Gesellschaft, so Huber.
(ddp,dr,epd)

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