Gegenseitige Schuldzuweisungen in der Koalition

Sandkastenspiele in der "Unterschichtendebatte"

Die so genannte Unterschichtendebatte hat in der großen Koalition einen Streit über die Ursachen der steigenden Armut in Deutschland ausgelöst. CDU-Generalsekretär Pofalla machte die rot-grüne Vorgängerregierung für die Entwicklung verantwortlich. Bundesarbeitsminister Müntefering sagt, Rot-Grün habe mit der Arbeitsmarktreform Menschen aus der Sozialhilfe geholt.

 (DR)

Die so genannte Unterschichtendebatte hat in der großen Koalition einen Streit über die Ursachen der steigenden Armut in Deutschland ausgelöst. CDU-Generalsekretär Pofalla machte die rot-grüne Vorgängerregierung für die Entwicklung verantwortlich. Bundesarbeitsminister Müntefering sagt, Rot-Grün habe mit der Arbeitsmarktreform Menschen aus der Sozialhilfe geholt. Auch Bundestagsvizepräsident Thierse verteidigte die Reform. - Fachleute wundern sich über plötzliche Einsicht der Politik. Hören Sie ein domradio-Interview mit Georg Cremer, Generalsekretär des deutschen Caritasverbandes, zu der Entwicklung und den Ursachen der "neuen" Armut.

Hartz an allem schuld?
Pofalla sagte, in sieben Jahren Rot-Grün sei der Anteil der Armen in Deutschland gestiegen. Zugleich kündigte er für das kommende Jahr die Einführung von Kombilohnmodellen an. Damit sollen Geringqualifizierte unter 25 Jahren und über 50 Jahre Zuschüsse zum Lohn bekommen. Dieser Teil der Arbeitslosen mache mit zwei Millionen Betroffenen fast die Hälfte aus.

Müntefering sagte dagegen, mit der „Hartz IV"-Reform hätten Sozialhilfeempfänger eine Chance auf dem Arbeitsmarkt erhalten. Zugleich fordert der SPD-Minister größere Anstrengungen bei der Arbeitsvermittlung. Zudem müsse man auch denen, die arbeitslos seien und Schwierigkeiten hätten, sagen: „Ihr müsst Euch anstrengen. Ihr müsst auch die Jobs nehmen, die wir zur Verfügung stellen können."

Bundestagsvizepräsident Thierse betonte: „Als 'Hartz IV' eingeführt wurde, haben wir ja nicht versprochen, die Arbeitslosigkeit abzuschaffen, sondern versucht, auf den globalisierten Arbeitsmarkt und auf die finanziellen Nöte des Sozialstaates zu reagieren. Besserung ist nicht eingetreten." Armut verfestige sich, wenn es Bildungsungleichheit, Arbeitslosigkeit und die Einschränkung von Aufstiegsmöglichkeiten gebe. „Und unsere Gesellschaft ist von unten nach oben zweifelsohne undurchlässiger geworden", sagte Thierse.

Der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), Michael Sommer, betonte, „Hartz IV" sei zwar nicht die Ursache zunehmender Armut. „Primär ist die Massenarbeitslosigkeit verantwortlich." Die Arbeitsmarktreform habe aber „den Trend hin zu zunehmender Armut verstärkt". Zugleich forderte Sommer Konsequenzen aus der Diskussion. Dazu gehört eine Intensivierung der Bildungsanstrengungen für sozial Schwächere, eine Strategie gegen die Jugendarbeitslosigkeit und eine neue Verteilungsdiskussion in der Gesellschaft.

Kinderschutzbund: Kinder verwahrlosen in armen Familien
Der Präsident des Kinderschutzbundes, Heinz Hilgers, sagte, ihn wundere, dass die zunehmende Armut plötzlich als neue Erkenntnis gehandelt werde. Die beiden letzten Bundeskanzler hätten abgestritten, dass es in Deutschland Armut gibt. Nun sei er froh, dass die Politik „mittlerweile zur Kenntnis nimmt, dass es in Deutschland eine wachsende Zahl von Menschen in Armut gibt".

Die Hauptursache hierfür sieht Hilgers in der steigenden Zahl der Langzeitarbeitslosen. Aber auch „Hartz IV" trage dazu bei. Dadurch, dass aus der einkommensabhängig gezahlten Arbeitslosenhilfe Sozialhilfe geworden sei, habe sich die finanzielle Lage für Viele „dramatisch verschlechtert".

Rund 99 Prozent der Verwahrlosungsfälle von Kindern würden in armen Familien registriert. Zwar gehe der überwiegende Teil der armen Menschen «sehr liebevoll» mit seinen Kindern um, sagte Hilgers. Dennoch sei Armut ein Risikofaktor.

Eine fatale Folge von Hartz IV sei die Trennung von Jugend- und Sozialhilfe, kritisierte Hilgers. Früher habe sich der Allgemeine Soziale Dienst des Jugendamtes automatisch um Sozialhilfe-Familien gekümmert. Dies sei durch die Reform weggefallen. Ein Frühwarnsytem, wie es Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen (CDU) anstrebe, könnten nur die Kommunen errichten, nicht der Bund, betonte Hilgers. Die Bundesregierung müsse aber Landkreise, Städte und Gemeinden so ausstatten, dass dies finanzierbar sei: "Das ist bisher nicht der Fall."

Der Vorsitzende der Sozialkammer der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gert Wagner, sieht keinen Zusammenhang zwischen Armut und „Hartz IV". Das dahinter stehende Problem seien Bildungsarmut und Langzeitarbeitslosigkeit. „Wir schicken derzeit 20 Prozent eines Jahrgangs ohne verwertbaren Schulabschluss ins Leben. Denen droht lebenslange Armut", betonte er.
(ddp)