DOMRADIO.DE: Sie sagen von sich, dass Sie kein gläubiger Mensch sind, aber in vielen gesellschaftspolitischen Fragen lagen Sie und Papst Franziskus gar nicht so weit auseinander. Als er 2013 schrieb: "Diese Wirtschaft tötet" hätten Sie ihn da nicht gerne sofort als Parteimitglied angeworben?
Gregor Gysi (Bundestagsabgeordneter Partei Die Linke): Ja, aber das wäre völlig sinnlos gewesen. Ich bin zwar überzeugt, dass Jesus Christus zweifellos ein Linker gewesen wäre, aber sicher nicht ein Mitglied meiner chaotischen Partei. Das können wir vergessen. Es gab viel Kritik für diesen Satz, aber was meinte Franziskus damit?
Es sterben jedes Jahr Millionen Menschen an Hunger, obwohl die weltweite Landwirtschaft die Menschheit zweimal ernähren könnte. Also liegt es doch an den Wirtschaftsstrukturen, dass die Lebensmittel nicht dort hinkommen, wo Menschen verhungern. Das meint Franziskus. Er meint, dass es Strukturen gibt, die wir hinnehmen, obwohl Menschen sterben.
DOMRADIO.DE: Dass sich ein Linken-Politiker positiv über die Kirche äußert, ist an sich schon ungewöhnlich. Sie haben sich in der Vergangenheit oft sehr positiv über Papst Franziskus geäußert, woher kommt diese Begeisterung?
Gysi: Wenn wir den christlichen Glauben nicht hätten, hätten wir überhaupt keine allgemein verbindliche Moral. Die haben wir nur durch die zehn Gebote und die Bergpredigt. Darum stellen die Christinnen und Christen jedes Jahr Weihnachten fest, dass sie doch wieder nicht so gelebt haben, wie es in der Bergpredigt steht, bekommen ein schlechtes Gewissen und spenden für die dritte Welt - die Nichtgläubigen spenden vor Schreck gleich mit. Deshalb haben wir Weihnachten immer das höchste Spendenaufgebot.
Die Linken könnten zwar auch versuchen, Moralnormen aufzustellen, aber sie hätten gar keine Kraft, diese allgemein verbindlich zu machen. Das ist es, was ich an der Religion schätze. Ich mache einen Unterschied zu den Kirchen, also zu denen, die in Kirche Verantwortung tragen, aber nicht immer deren Moralnormen folgen. Das muss auch Die Linke begreifen: Welchen hohen Wert Religion diesbezüglich für unsere Gesellschaft hat.
DOMRADIO.DE: Aber es hat nie dazu geführt, dass Sie für sich den Glauben gesucht haben?
Gysi: Nein, auch vor meiner Gehirnoperation habe ich nicht an Gott geglaubt. Ich denke, dass letztlich alles naturwissenschaftlich erklärbar ist und mir fehlt auch die Fantasie, mir das vorzustellen. Aber ich hatte einen Freund, der sehr gläubig war und der mir immer sagte, dass Gott mich liebt. Das wiederum hat mir dann doch gefallen. Denn für den Fall, dass es ihn gibt und er mich dann gern hat, ist das ja schon eine Menge wert.
DOMRADIO.DE: 2019 haben Sie Papst Franziskus im Vatikan besucht. Was ist Ihre wichtigste Erinnerung an dieses Treffen?
Gysi: Er strahlte eine ungeheure Güte aus. Er war zwar durchsetzungsfähig, aber nicht autoritär oder diktatorisch, sondern er versuchte es immer mit den Mitteln der Überzeugung. Das war mir sehr sympathisch. Wir haben über die Armut in der Welt gesprochen, ob es eine Wirtschaftssynode braucht und ob er dazu nicht vielleicht auch die Europäischen Linken einladen will, deren Präsident ich damals war.
Das war natürlich ein bisschen frech von mir, das anzubieten, aber er muss gewusst haben, dass ich ihn einmal in einem Streitgespräch gegen heftige Angriffe eines Klostervorstehers verteidigt habe. Das hätte ich mir 1990 auch nicht träumen lassen.
DOMRADIO.DE: So politisch wie Franziskus war noch kein Papst vor ihm: Geflüchtete, die Armut, der Klimawandel, die Kriege in Nahost und in der Ukraine. Zu allen diesen Themen hatte er eine Meinung, die er öffentlich auch kundtat. Nicht allen hat das gefallen, Ihre Kollegin, die Bundestagspräsidentin Julia Klöckner, hatte vergangene Woche sinngemäß kritisiert, dass Kirchen sich bisweilen zu sehr in die Politik einmischen würden. Sie sollten sich mehr um die Seelsorge kümmern. Wie sehen sie das?
Gysi: Nein, das finde ich nicht. Ich finde das auch ein bisschen viel Einmischung von Julia Klöckner, die das zweithöchste Amt unseres Staates bekleidet. Man muss mit den Kirchen sprechen und sollte ihre Tätigkeit nicht so abwerten. Es stimmt auch nicht.
Die Kirchen spielen eine andere Rolle und Papst Franziskus hatte Recht mit seinen Themen: Armut, ökologische Nachhaltigkeit und Flüchtlinge. Das waren ihm alles wichtige Anliegen. Deshalb finde ich, sollte man die Kirchen eher unterstützen, in dieser Richtung weiterzugehen. Es gibt eine Meinungsfreiheit, die gilt auch für die Kirchen und das hat man zu respektieren.
DOMRADIO.DE: Wünschen Sie sich als nächsten Papst wieder einen, der sich so politisch zu Wort meldet? Auch wenn er möglicherweise eine ganz andere politische Meinung als Sie vertritt?
Gysi: Ja, natürlich, damit muss man sich dann auseinandersetzen. Aber der nächste Papst sollte auf jeden Fall auch politisch sein. Denn er will doch Wirkung erzielen, in die eine oder andere Richtung. Dann ist es immer so, dass man entweder Kritik kassiert, wenn man zum Beispiel sagt, dass Wirtschaft tötet. Oder wenn man das Gegenteil sagt und findet, dass das aktuelle Wirtschaftssystem fantastisch ist und gut für die Menschen. Dann bekommt man mit mir Ärger. Kritik gibt es also immer, man kann sich nur aussuchen, aus welcher Richtung.
Das Interview führte Ina Rottscheidt.