Moraltheologe zu Empfehlungen zur Bewältigung der Corona-Krise

"Triage nach Alter ist absolut verwerflich"

Der Deutsche Ethikrat hat Empfehlungen zur Bewältigung der Corona-Krise vorgelegt. Diese sollen auch als Gegenwicht zur "einseitigen Zuspitzung auf den Lockdown" dienen, so Moraltheologe Andreas Lob-Hüdepohl.

Autor/in:
Christoph Scholz
Warnhinweis mit Abstandsregelung während der Corona-Pandemie / © Armin Weigel (dpa)
Warnhinweis mit Abstandsregelung während der Corona-Pandemie / © Armin Weigel ( dpa )

KNA: Herr Professor Lob-Hüdepohl, was war das Kernanliegen der Stellungnahme?

Prof. Dr. Andreas Lob-Hüdepohl (Moraltheologe aus Berlin und Mitglied im Ethikrat): Wir stehen derzeit von einer extrem schwierigen Güterabwägung. Auf der einen Seite brauchen wir ein hochwertiges, leistungsfähiges Gesundheitssystem, um die Corona-Kranken ebenso zu versorgen wie alle anderen Intensivpatienten auch. Auf der anderen Seite stehen die erwartbaren Begleitschäden für die Gesellschaft, die wir möglichst gering halten müssen. Dafür wollte der Ethikrat Kriterien anbieten und auf Rahmenbedingungen hinweisen.

KNA: An welche Schäden denken Sie besonders?

Lob-Hüdepohl: An jene, die schon jetzt eingetreten sind: an die Unterversorgung in den Psychiatrien, in der Pflege, in Heimen für behinderte Menschen; oder an die Vereinsamung und Isolation Alleinlebender, die bis zum Suizid führen kann. An den Anstieg häuslicher Gewalt und die sozialen existenziellen Folgen, wenn die wirtschaftliche Existenzgrundlage wegbricht.

KNA: Die derzeitigen Maßnahmen sind aber auch für den Ethikrat gerechtfertigt.

Lob-Hüdepohl: Aber nur für eine bestimmte Zeit. Es muss eine absolute Ausnahmesituation bleiben, die ständig auf ihre Folgen zu überprüfen ist. Die Freiheitseinschränkungen sollten so bald wie möglich schrittweise zurückgefahren werden.

KNA: Sie legen in der Expertise besonderen Wert auf die Rückführung zur Normalität. Soll das auch ein Gegengewicht zum vorherrschenden Diskurs bieten?

Lob-Hüdepohl: Es ist nachvollziehbar, dass derzeit die Virologen und Epidemiologen das Wort haben. Wir sehen aber eine einseitige Zuspitzung auf den Lockdown. Uns war es deshalb wichtig, das Ganze der Gesellschaft im Blick zu behalten - deren Solidarität ja gewissermaßen einem Stresstest unterzogen wird.

KNA: Dennoch: Sind Gesundheit, Leib und Leben nicht so hohe Güter, dass ihnen alles andere unterzuordnen ist?

Lob-Hüdepohl: Nein. Auch nach der Verfassung gilt der gebotene Schutz menschlichen Lebens nicht absolut. Ihm dürfen nicht selbstverständlich alle anderen Grundrechte untergeordnet werden. Jeder muss ein allgemeines Lebensrisiko akzeptieren.

KNA: Wer muss im Zweifelsfall darüber entscheiden?

Lob-Hüdepohl: Uns war es besonders wichtig, den Primat der Politik hervorzuheben. "Die Corona-Krise ist die Stunde der demokratisch legimitierten Politik", lautet bewusst der letzte Satz. Damit liegt die wesentliche Verantwortung beim Parlament, bei der gesetzgebenden Gewalt. Allerdings fordern wir ebenso eine gesellschaftliche Debatte zur Frage, welche Lebensrisiken als akzeptabel anzusehen sind und welche nicht. Dabei müsse alle vulnerablen Gruppen gleichermaßen berücksichtigt werden.

KNA: Sie haben sich in der Expertise auch mit der Triage befasst. Diese gilt für den Fall, dass etwa nicht genügend Beatmungsgeräte vorhanden sind und der Arzt entscheiden muss, welcher Patient eines erhält. In Straßburg werden laut jüngsten Berichten nur noch unter 80-Jährige beatmet. Wie bewerten Sie das?

Lob-Hüdepohl: Das ist absolut verwerflich. Wir plädieren für klare medizinische Kriterien, die sich maßgeblich an den Therapieaussichten orientieren. Alter, soziale Herkunft oder andere derartige Kriterien als alleinige Grundlage zu nehmen, ist schlichtweg abzulehnen.

KNA: Der Rat geht noch auf einen zweiten Fall der Triage ein: Wenn einem Patienten in Therapie ein Beatmungsgerät genommen wird, um es einem anderen Patienten mit besserer Überlebenschance zu geben. Wie ist das zu bewerten?

Lob-Hüdepohl: Es gehörte bisher nicht zur Triage, Patienten in Behandlung erneut in die Auswahl aufzunehmen. Einige medizinischen Fachgesellschaften empfehlen dies inzwischen in ihren Leitlinien. Es bleibt aber dabei, dass ein Behandlungsabbruch lebenserhaltender Maßnahmen - auch mit schlechter Prognose - strafrechtlich schlicht eine Tötung und damit strafbewehrt ist. Sicherlich kann der einzelne Arzt dann bei der rechtlichen Aufarbeitung vor Gericht auf Nachsicht hoffen, wenn er aus ethisch nachvollziehbaren Gründen gehandelt hat.

KNA: Sollten die derzeitigen Maßnahmen des sozialen Abstandhaltens nicht greifen und die gesellschaftlichen Schäden überwiegen, müssen wir uns dann auch in Deutschland auf Triagen gefasst machen?

Lob-Hüdepohl: Das wäre die Ultima Ratio. Wir sind aber sehr zuversichtlich, dass es nicht dazu kommt, wenn jetzt alle Verantwortung übernehmen. Mir ist aber wichtig, dass es nicht um eine soziale Distanzierung geht. Ganz im Gegenteil: Es geht um ein hohes Maß an physischem Abstand bei einem ebenso hohen Maß an sozialer Nähe.

KNA: Der Ethikrat hat sich geschlossen hinter den Text gestellt. Das geschieht selten. War die Erarbeitung unter den 26 Mitglieder ebenso harmonisch?

Lob-Hüdepohl: Es wäre ein Wunder, wenn es bei einzelnen Fragen keine kontroversen Diskussionen geben würde. Uns war es aber ein wichtiges Anliegen, in dieser schwierigen Situation zu gemeinsamen Empfehlungen zu kommen.


Theologe Andreas Lob-Hüdepohl / © Julia Steinbrecht (KNA)
Theologe Andreas Lob-Hüdepohl / © Julia Steinbrecht ( KNA )
Quelle:
KNA