DOMRADIO.DE: Mehr als 100 Hilfsorganisationen fordern in einem Appell die sofortige Grenzöffnung für Hilfskonvois, die an der Grenze zum Gaza-Streifen auf ihren Einsatz warten. Wie kommt so ein Appell eigentlich zu Stande?
Marie von Manteuffel (Politische Referentin von Caritas international): Bei uns in der Organisation ist der Appell auf meinem Schreibtisch gelandet. Das typische Verfahren haben wir auch in dem Fall angewendet. Dabei stimmt ich mich mit dem zuständigen Projektreferat ab.
In dem Fall ist es das Referat Nahost, in dem unsere Projekte gemanagt werden, die wir vor Ort mit unseren lokalen Partnern versuchen umzusetzen. Bei einem so heiklen Thema haben wir schnell unseren Vorstand mit reingeholt, um zu schauen, auf welcher Linie wir uns einigen können.
DOMRADIO.DE: Das wäre die Abstimmung mit den verschiedenen Caritas-Zweigen. Aber es sind auch viele andere Organisationen dabei. Als Einzelperson kann man über diverse Plattformen Unterschriften sammeln. Wie läuft das bei einer großen Aktion ab? Ist das vergleichbar?
von Manteuffel: Es ist ein bisschen anders. In dem Fall haben wir den Brief über Oxfam erhalten. Wir sind sowieso vielfach mit den anderen Organisationen im Austausch. Die Organisationen haben ihr eigenes Profil oder ihre eigenen Fixpunkte. Gerade in so einem Kontext wie Gaza ist es für mich persönlich beeindruckend, wie eng wir seit zwei Jahren schauen, dass wir uns abstimmen und eine Linie finden.
Wir haben alle letztlich ähnliche Schwierigkeiten vor Ort oder auch hier in Deutschland, mit denen wir konfrontiert sind. Wir schauen, dass wir uns eng absprechen und gegenüber der Politik möglichst mit einer Stimme sprechen.
Wir möchten unsere Kräfte bündeln, Synergien finden und gemeinsam zeigen, dass das keine Einzelmeinung ist, sondern dass das die gemeinschaftliche Überzeugung aus humanitärer Sicht vor Ort ist, dass sich die Lage ändern muss. Außerdem muss die Bundesregierung noch mal anders aktiv werden. Die Organisationen sind jedoch divers und man muss über die ein oder andere Formulierung im Einzelnen diskutieren.
DOMRADIO.DE: Kann man sich das so vorstellen wie im Europaparlament? Wenn es um eine Resolution geht, dann sagt ein Staat, das müssen wir so formulieren, sonst wird er das nicht unterschrieben. Ist das bei dem Appell auch so?
von Manteuffel: So streitbar wie im Parlament läuft das nicht ab. Man weiß vorher schon, welche roten Linien bei der einen oder anderen Organisation sind. Es gibt auch Organisationen, die vielleicht auf noch schärfere Sprache drängen würden. Aber letztlich wissen wir alle, uns geht es um die gleiche Sache.
Es geht uns um die gleiche Botschaft, eine möglichst große Wirksamkeit zu bekommen, in unserem Fall gegenüber der Bundesregierung. Wir fordern, dass sie sich einsetzt, noch tatkräftiger als sie es bisher getan hat gegenüber der Regierung Netanjahu.
Da ist relativ schnell klar, dass niemand anfängt, seine Maximalforderungen durchzusetzen, sondern dass es wirklich darum geht, vielleicht rote Linien auszubügeln und vor allen Dingen zu schauen, dass es sachlich einfach richtig ist.
DOMRADIO.DE: Es ist schwer, an Israel oder an die Politik Netanjahus eindeutig Kritik zu äußern. Die deutsche Situation ist aufgrund der Geschichte mit den Juden ebenfalls eine Andere. Sind das Aspekte, die für eine christliche Institution wie die Caritas, mit reinspielen bei der Unterzeichnung eines solches Papieres?
von Manteuffel: Ich glaube, grundsätzlich bricht uns allen das Herz, dass das, was in Gaza passiert, ausgerechnet von der israelischen Regierung forciert wird. Das bringt uns alle in eine fürchterliche Situation, in der wir schauen müssen, wie wir das Leid auf der einen und das Leid auf der anderen Seite abwägen können. Auch die Frage, wie wir die Themen trennen können.
Der Antisemitismus in Deutschland muss selbstverständlich bekämpft werden. Der muss aber auch getrennt angeschaut werden, von der humanitären Situation von dahinsiechenden Kindern und alten Menschen in Gaza. Das ist eine wahnsinnig schwierige Gratwanderung, die wir als Caritas, aber ich denke auch alle humanitären Organisationen, gehen müssen. Sie müssen vorsichtig Schritt für Schritt gehen.
DOMRADIO.DE: Es gibt aktuell Erleichterungen von Hilfslieferungen in den Gaza-Streifen. Es sind vor allem Abwürfe von Hilfsgütern aus der Luft geplant. Auch die deutsche Regierung spricht von einer Luftbrücke.
von Manteuffel: Mir wäre es sehr lieber, ehrlich gesagt, wenn die Grenzen, die immer noch nahezu komplett zu sind, geöffnet werden. Es wurden einige LKWs durchgelassen, aber es ist völlig unklar, wie viele. Man weiß auch nicht, wohin die die Güter bringen dürfen. Denn nach wie vor sind 85% des Gazastreifens eine No-Go-Zone. Die Menschen dürfen da nicht hingehen.
Auf sie würde geschossen werden, wenn sie da hingehen würden. Mir wäre es lieber, wenn das "normale" humanitäre Hilfssystem seine Arbeit machen dürfte. So viele Güter stehen seit Wochen entlang der Grenzen zu Gaza und dürfen nicht rein.
Ich möchte niemanden etwas Schlechtes unterstellen, aber es sind sehr wirkkräftige Bilder, die durch eine Luftbrücke entstehen. Die nicht erforderlich sind. Alle Experten sagen unisono, dass solche Abwürfe über die Luft viel zu treuer, ineffizient und gefährlich sind.
DOMRADIO.DE: Denken Sie, dass der Appell bisher etwas genutzt hat? Wo wäre eine weitere Eskalationsstufe? Was könnten Sie auch als Caritas international noch Weiteres tun, um diese Appelle zu verstärken?
von Manteuffel: Das Diskutieren wir seit vielen Wochen nicht nur innerhalb der Caritas, sondern innerhalb aller humanitären Hilfsorganisationen, die in Gaza tätig sind. Was können wir noch tun, um auch gerade die deutsche Bundesregierung dazu zu bewegen, Klartext zu sprechen und ihren Einfluss geltend zu machen.
Ich würde es mir wünschen, dass wir in irgendeiner Weise schon etwas bewirkt haben. Wir werden sicherlich dran bleiben. Aber wenn die Antwort jetzt ist, eine wirklich ineffiziente und eher auf Symbolik absehende Luftbrücke einzurichten, statt einfach dafür zu sorgen, dass die Grenzen geöffnet werden, dann befürchte ich, dass wir bisher noch nicht am Ziel sind, sondern dass wir uns weiter an die Bundesregierung wenden werden müssen.
Das Interview führte Uta Vorbrodt.